"Niemand wird, weil sich die Lage geändert hat, in einen Container gesteckt und zurückgebracht"
© Schulz / Universität Halle-Wittenberg

Nach dem Sturz des syrischen Präsidenten Assad fragen sich viele, was aus den Menschen wird, die vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen sind. Winfried Kluth erklärt, warum sich für viele Syrer gar nichts ändern wird. Schnelle Abschiebe-Forderungen seien – auch rechtlich – verfehlt.

beck-aktuell: Herr Professor Kluth, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat nach der Flucht des syrischen Machthabers Assad einen sofortigen Entscheidungsstopp für Asylanträge von Menschen aus Syrien verhängt. Betroffen sind nach derzeitigem Stand rund 47.000 noch anhängige Anträge von Syrerinnen und Syrern. Was steckt hinter dieser Entscheidung?

Kluth: Die Entscheidung über die Gewährung von Schutz hängt von der Einschätzung der Gefahrenlage im Heimatstaat ab. Und diese ist durch die neuen Entwicklungen natürlich grundlegend verändert worden. Zum einen dadurch, dass die Spitze des bisherigen Regimes das Land verlassen hat. Aber auch die Frage, in welchen Teilen des Landes es nun in welcher Form weiter Bürgerkrieg gibt, muss geklärt werden. Deswegen muss die Arbeit an den einzelnen Anträgen unterbrochen werden, bis man neue und zuverlässige Gefahrenlageneinschätzungen für ganz Syrien hat.

beck-aktuell: Die Zustände in Syrien sind derzeit noch sehr unübersichtlich. Über die neuen Machthaber, die abwechselnd als Islamisten oder als gemäßigt bezeichnet werden, ist bislang wenig bekannt. Glauben Sie, dass in absehbarer Zeit die Verhältnisse so weit geklärt sind, dass die asylrechtliche Lage in Syrien wieder zuverlässig überprüft werden kann?

Kluth: Da bin ich leider auch nicht schlauer als die Experten, und die sagen: abwarten. Wir sehen bislang nur vorläufige Entwicklungen. Die neuen Machthaber versuchen jetzt, in Damaskus eine neue staatliche Struktur mit einer gewissen Stabilität zu entwickeln. Aber wir haben an der Grenze zur Türkei auch kurdische und türkische Aktivitäten. Das alles muss man nun in Ruhe beobachten. Wir können nur umgekehrt sagen, was es nicht mehr gibt: eine Verfolgung durch das Assad-Regime.

"Das war nicht ganz legal, aber man hat es gemacht"

beck-aktuell: Über wie viele Menschen reden wir denn, die aufgrund einer Verfolgung durch das Assad-Regime als Flüchtlinge anerkannt worden sind?

Kluth: Von den Menschen, die ab 2015 aus Syrien kamen, sind viele als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt, weil sie aus den Bürgerkriegsgebieten kamen und dieses Verfahren vom BAMF ohne Einzelanhörung durchgeführt werden konnte. Das war nicht ganz legal, aber man hat es gemacht, um die vielen Anträge schneller bearbeiten zu können. Etwas mehr als die Hälfte der Schutzberechtigten, ca. 340.000 Personen, wurden als Asylberechtigte oder Flüchtlinge anerkannt.

beck-aktuell: Könnten Sie kurz erläutern, wo der Unterschied zwischen einer Anerkennung als Flüchtling und subsidiärem Schutz liegt?

Kluth: Bei der Anerkennung als Asylberechtigter und Flüchtling braucht es eine Verfolgungshandlung, die auf die einzelne Person oder die Gruppe gerichtet ist, der sie angehört. Dabei gibt es bestimmte Verfolgungsgründe, etwa aufgrund der Religion und anderer Merkmale. Bei den Bürgerkriegsflüchtlingen, also beim subsidiären Schutz, kommt es auf die allgemeine Gefahr bzw. den ernsthaften Schaden an, die den Menschen in ihrem Heimatland droht. Der Einzelne muss also keine individuelle Betroffenheit nachweisen.

"Sehr viele Syrer sind inzwischen eingebürgert"

beck-aktuell: Viele Syrerinnen und Syrer durften also deshalb bleiben, weil die Situation im Bürgerkrieg zu unsicher war, um sie zurückzuschicken. Wie wirkt sich da die neue Situation aus, in der zwar das Assad-Regime gestürzt scheint, die Lage aber weiterhin sehr unruhig ist?

Kluth: Der Status wurde ihnen ja erst einmal zuerkannt. Wenn sich die Lage nun geändert hat, dann muss geprüft werden, ob dieser Status widerrufen werden kann. Dafür ist Voraussetzung, dass man eine neue Gefahrenlageneinschätzung hat, die diese Gefährdungen ausschließt. Das ist ein zweites Verfahren, spiegelbildlich zur Anerkennung.

Wichtig ist aber, zwischen der Anerkennung und dem aufenthaltsrechtlichen Status zu unterscheiden, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Der Aufenthaltstitel wird aufgrund der Anerkennung erteilt. Aber diejenigen, die einen Aufenthaltstitel haben, können auch weiter "wandern" in andere Aufenthaltstitel, wenn sie etwa eine Beschäftigung haben oder sogar eingebürgert werden.

Seit 2015 sind neun Jahre vergangen und man kann, wenn man einen Job und einen rechtmäßigen Aufenthalt hat, bereits nach fünf Jahren eingebürgert werden. Über 161.000 Syrer sind inzwischen eingebürgert. Letztendlich sind von der neuen Lage also besonders diejenigen betroffen, die nur einen humanitären Aufenthaltstitel haben und Sozialhilfe vom Staat erhalten, also die eigene Existenz nicht durch Beschäftigung sichern können. Bei dieser Personengruppe würde ein Widerruf der Anerkennung dazu führen, dass auch der Aufenthaltstitel widerrufen werden kann und sie ausreisepflichtig würden.

beck-aktuell: Drohen die Syrerinnen und Syrer, die tatsächlich als Flüchtlinge anerkannt wurden, weil sie vor dem Assad-Regime geflohen sind, nun auch, diesen Status wieder zu verlieren?

Kluth: Auch hier kommt es darauf an, wie ihr aufenthaltsrechtlicher Status ist. Wir haben viele syrische Ärztinnen und Ärzte, viele Personen im Gesundheitswesen, die eine feste Beschäftigung haben. Die können aufgrund ihrer Aufenthaltstitel natürlich hierbleiben und es gibt ja auch den Wunsch, dass sie bleiben. Wenn man schaut, wie viele Ärztinnen und Ärzte aus Syrien in unseren Krankenhäusern arbeiten, sieht man, wie fest große Teile dieser Flüchtlinge in unserer Gesellschaft, unserem Arbeitsleben und unserer Daseinsvorsorge verankert sind. Problematisch ist daher die Lage für diejenigen, die keine Beschäftigung haben. Auch ihnen droht ein Widerruf des Aufenthaltstitels mit der Folge einer Ausreisepflicht.

"Schnelle Abschiebeforderungen sind unangemessen"

beck-aktuell: Es gibt im deutschen Aufenthaltsrecht auch den sogenannten Spurwechsel, der die Möglichkeit bietet, aus dem humanitären Schutzstatus in die Spur der Arbeitsmigration zu wechseln. Für wen käme das jetzt in Betracht?

Kluth: Bei der letzten Gesetzesänderung hat man diese Möglichkeit erweitert. Der Gesetzgeber hat die Entscheidung getroffen, dass man ein großes Interesse daran hat, dass alle, die in eine Beschäftigung kommen, auch hierbleiben. Deswegen hat man gesagt: Wer Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels hat, kann die Spur wechseln. Das hat man bei allen relevanten Aufenthaltstiteln zum Zweck der Beschäftigung gemacht. Bislang handelte es sich da um Ermessenstatbestände. Nun hat jeder, der eine gewisse Mindestqualifikation hat, einen Anspruch auf den Spurwechsel.

beck-aktuell: Bereits kurz nach der Meldung von Assads Sturz kamen aus der Politik erste Forderungen, man müsse die bis dato schutzberechtigten Syrerinnen und Syrer nun schnell wieder zurückschicken. Kommen diese Forderungen – nach dem bisher Gesagten – in verschiedenster Hinsicht zu früh?

Kluth: Ja, und sie sind meines Erachtens auch mit Blick auf das Gesetz völlig unangemessen. Zunächst einmal müssen die Menschen das selbst entscheiden. Zudem betrifft das vor allem diejenigen, die nur einen Schutzanspruch und kein anderes Aufenthaltsrecht haben. Und auch für sie gilt eine behutsame Vorgehensweise. Die Behörden müssen erst einmal genau prüfen. Jetzt zu sagen, wir müssten anfangen, Flugzeuge zu chartern, das ist überhastet und entspricht auch nicht den Anforderungen an eine gründliche Prüfung, die das Asylgesetz von den Behörden verlangt.

Im Übrigen gibt es auch unabhängig vom Ergebnis der Prüfung Fristen für eine Ausreise, die sich nach der Zeit richten, die jemand schon in Deutschland verbracht hat, wie die persönliche Lage der Person ist, ob Kinder in die Schule gehen oder Unterkunftsmöglichkeiten in der Heimat vorhanden sind. Das Gesetz sieht dort viele Ermessensgesichtspunkte vor. Da wird niemand, weil sich die Lage geändert hat, in einen Container gesteckt und zurückgebracht. Es geht schließlich um die Rückkehr in ein Land, das lange Jahre im Bürgerkrieg steckte.

beck-aktuell: Herr Professor Kluth, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Prof. Dr. Winfried Kluth ist Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist zudem Leiter der Forschungsstelle Migrationsrecht, Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration sowie Mitherausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift für Ausländerrecht und -politik (ZAR).

Das Interview führte Maximilian Amos.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 12. Dezember 2024.