Die Opioid-Krise hat zwischen 1999 und 2019 eine knappe Viertelmillion Menschen in den USA das Leben gekostet. Eine Hauptrolle hat dabei das im Jahr 1996 auf den Markt gebrachte Schmerzmittel OxyContin gespielt: Allein im Jahr 2000 wurden OxyContin-Tabletten im Wert von 1,1 Milliarden Dollar verschrieben, bis 2019 brachte das Medikament seinem Hersteller, Purdue Pharma, einen Erlös von 34 Milliarden Dollar ein.
Der Grund für diesen Erfolg: Weil die in OxyContin enthaltenen Wirkstoffe verzögert freigesetzt wurden, also nicht zur schnellen Bedürfnisbefriedigung zu taugen schienen, bewarb Purdue das Medikament als kaum suchtbildend. Zugleich wirke es, so der Hersteller, doppelt so lang wie vergleichbare Schmerzmittel. Geradezu aggressiv von Purdue umgarnt, verschrieben amerikanische Ärztinnen und Ärzte OxyContin daraufhin jahrelang sowohl gegen akute als auch gegen chronische Schmerzen.
Sehr wohl Suchtpotenzial
Fast zeitgleich erschienen die ersten Berichte, welche diese Anpreisungen Lügen straften. Sehr wohl habe das Mittel Suchtpotenzial, hieß es; es werde vielfach missbraucht und auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Aufpreisen an Suchtkranke verkauft, die die Tabletten als Puder schnupften oder sich in flüssiger Form injizierten. Purdue reagierte hierauf aber nicht. Vielmehr machte die Familie Sackler, denen Purdue gehörte und deren Mitglieder Posten im Vorstand und Aufsichtsrat des Unternehmens bekleideten, jene allein verantwortlich, die OxyContin missbräuchlich einnahmen.
2007 einigte sich eine Holdinggesellschaft von Purdue mit der Bundesregierung auf eine Strafzahlung von mehr als einer halben Milliarde Dollar, weil Purdue Behörden, der Ärzteschaft und Patienten und Patientinnen die Risiken von OxyContin verschwiegen hatte. Dennoch dauerte es bis 2011, bis die Rezeptur des Medikaments angepasst wurde, um seine missbräuchliche Einnahme zu erschweren. Zugleich begann die Herstellerfamilie aus Sorge vor Schadensersatzklagen, ihr finanzielles Polster aufzubessern, indem sie einen hohen Anteil der Erlöse Purdues an sich auskehrte: Zwischen 2008 und 2016 erhielt sie Auszahlungen in Höhe von insgesamt 11 Milliarden Dollar.
2014 begann eine Klagewelle gegen Purdue sowie gegen Mitglieder der Familie Sackler. Zu den auf deliktischen Schadensersatz Klagenden gehörten Städte, Counties, Stämme der American Indians sowie Opfer bzw. ihre Angehörigen. Die Schadensersatzforderungen beliefen sich insgesamt auf mehr als 40 Billionen (sic) Dollar. Hiermit konfrontiert, beantragte Purdue 2019 die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Dieses hatte zur Folge, dass alle Klagen gegen die Insolvenzmasse ausgesetzt wurden. In der Zwischenzeit verhandelten die Gläubiger (also v.a. die Klägerinnen und Kläger der Schadensersatzklagen) und Purdue über einen sogenannten plan of reorganization.
Ein solcher Plan sieht Maßnahmen vor, um die Gläubiger zu befriedigen. Er kann weitreichende Umstrukturierungen – etwa die Veräußerung oder Umwandlung des Unternehmens in Insolvenz – anordnen. Verbindlich wird er, wenn er vom Insolvenzgericht bestätigt wird; nicht erforderlich ist, dass alle Gläubiger dem Plan zustimmen. Ein bestätigter Plan lässt grundsätzlich alle Ansprüche gegen den vormaligen Insolvenzschuldner untergehen, soweit im Plan nichts anderes bestimmt ist.
Eine großzügige Geste?
Die Familie Sackler sah in diesen Verhandlungen eine günstige Gelegenheit, den gegen sie gerichteten Klagen ebenfalls ein Ende zu bereiten. Daher schlug sie vor, der Insolvenzmasse Purdues knapp 4,5 Milliarden Dollar zurückzuzahlen, die anschließend zur Befriedigung der Gläubiger (d.h. auch: Entschädigung der OxyContin-Opfer) verwendet werden könnten. Im Gegenzug forderte sie das Erlöschen sämtlicher Anfechtungsklagen, die Purdue zwischenzeitlich oder zukünftig wegen der an sie getätigten Auszahlungen gegen sie erhoben hatte oder erheben würde, sowie von Schadensersatzklagen Dritter. Das ist dieselbe Rechtsfolge, die am Ende eines erfolgreichen Insolvenzverfahrens einem Insolvenzschuldner zuteil wird.
Purdue stimmte diesem Vorschlag zu und bot seinerseits an, sich in eine gemeinnützige Gesellschaft zur Bekämpfung der Opioid-Krise umzuwandeln und das von der Eigentümerfamilie überwiesene Vermögen für Entschädigungszahlungen von 3.500 bis 48.000 Dollar pro Person zu verwenden.
Hierzu befragt, stimmte eine Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Gläubiger dem Vorschlag zu. Das Insolvenzgericht bestätigte den Plan daraufhin. Nachdem ein Bundesbezirksgericht ihn aber aufhob, erklärte sich die Familie Sackler zu einer weiteren Zahlung in Höhe von mehr als einer Milliarde Dollar an die Insolvenzmasse bereit. Das Bundesberufungsgericht änderte die vorinstanzliche Entscheidung daraufhin ab und bestätigte den Plan. Einen hiergegen gerichteten Antrag auf Anordnung einer aufschiebenden Wirkung nahm der Supreme Court dann zur Entscheidung an. Diese verkündete er am 27. Juni 2024 und hob den plan of reorganization mit 5 zu 4 Stimmen auf. Für die Aufhebung stimmte neben vier konservativen Richtern auch die von Präsident Biden nominierte Richterin Brown Jackson. Den Plan beibehalten hätten hingegen neben dem Chief Justice sowie den Richterinnen Kagan und Sotomayor auch der von Präsident Trump vorgeschlagene Richter Kavanaugh, der die abweichende Meinung verfasste.
Das Urteil vom 27. Juni: Die Falschen profitieren
Dreh- und Angelpunkt der Entscheidung ist die Frage, ob das Insolvenzgericht durch die Bestätigung eines plan of reorganization das Erlöschen auch gegen Dritte gerichteter Ansprüche anordnen darf. Dürfen am Ende also die Mitglieder der Familie Sackler von den Vorteilen eines abgeschlossenen Insolvenzverfahrens profitieren, an dem sie gar nicht beteiligt waren?
Die Vorschriften des US-amerikanischen Insolvenzrechts verhalten sich zu dieser Frage nicht ausdrücklich. 11 U.S.C. § 1123 Abs. (b) enthält in seinen Nr. 1 bis 5 eine detaillierte Beschreibung zulässiger Klauseln, während Nr. 6 als Auffangtatbestand bestimmt, "a plan may include any other appropriate provision not inconsistent with the applicable provisions of this title".
Die Richtermehrheit meint nun, dass der Auffangtatbestand nur Klauseln erlaube, die mit den in den Nr. 1 bis 5 in Bezug genommenen strukturell vergleichbar seien. Für die Befreiung Dritter von gegen sie gerichteten Ansprüchen könne man dies nicht annehmen; hierbei handele es sich um eine "radically different" Klausel, die das System des geltenden Insolvenzrechts sprenge. Zwar erlaube Abs. b Nr. 3(A) Abreden, wonach Ansprüche des Insolvenzschuldners gegen Dritte erlöschen, die Dritten also von Schulden befreit werden. Ansprüche der Insolvenzgläubiger gegen den Dritten seien hiervon aber grundlegend zu unterscheiden – auch dann, wenn sie den Ansprüchen des Insolvenzschuldners ähnelten.
Es sei auch nicht einzusehen, warum Dritte vergleichbar einem Insolvenzschuldner befreit werden können sollten, ohne selbst ein Insolvenzverfahren durchlaufen und ihr Vermögen zur Verfügung eines plan of reorganization stellen zu müssen. In Ermangelung einer ausdrücklichen Befugnis, Insolvenzgläubiger ohne ihre einhellige Zustimmung ihrer Ansprüche gegen Dritte zu entkleiden, müsse die insolvenzgerichtliche Bestätigung des Plans aufgehoben werden.
Die dissenting opinion: Das Bestmögliche für alle Gläubiger
Die abweichende Meinung bestreitet, dass das Insolvenzrecht bislang keine Regelung zur Befreiung dritter Schuldner enthalte.
Vor allem aber argumentiert die Minderheit mit dem Zweck des Insolvenzrechts. Dieses suche die vollständige, dem Prioritätsprinzip unterliegende Befriedigung einzelner Gläubiger in der Einzelvollstreckung abzuwenden und durch eine gleichmäßige Befriedigung aller Insolvenzgläubiger in der Gesamtvollstreckung zu ersetzen. Dieses Ziel würde verfehlt, wenn die Familie Sackler nicht in den plan of reorganization einbezogen würde. In diesem Fall käme es nämlich zu einem Wettlauf der Gläubiger um Schadensersatzklagen gegen Mitglieder der Familie, an dessen Ende höchstens die Befriedigung einiger weniger Gläubiger stünde, alle anderen aber leer ausgingen. Zugleich könnten die Familienmitglieder bei der Insolvenzmasse Purdues Regress nehmen und auf diese Weise den Entschädigungstopf für alle von OxyContin Geschädigten entscheidend schmälern.
Nur ein Plan, der Teile des Vermögens der Familie Sackler allen Insolvenzgläubigern zugänglich macht, erhalte und erhöhe die Insolvenzmasse, so die Vertreterinnen und Vertreter der dissenting opinion. Darüber hinaus müsse beachtet werden, dass den gegen die Herstellerfamilie gerichteten Klagen nicht unbedingt Erfolg beschieden sein müsse. Das Risiko sei daher real, dass die Geschädigten leer ausgehen und die Eigentümer das Purdue entnommene Vermögen ungeschmälert verbrauchen könnten. Nur der Kongress könne dann, indem er das Insolvenzrecht entsprechend ändere, Klarheit schaffen und dem Plan wieder zum Leben verhelfen.
Muss der Kongress tätig werden?
Die Richtermehrheit scheint demgegenüber darauf zu vertrauen, dass die Familie Sackler unter öffentlichem Druck zu einer größeren Vermögensübertragung an die Insolvenzmasse Purdues veranlasst werden wird. Je höher die Rückzahlung an Purdue ausfällt, desto wahrscheinlicher wird es, dass alle Insolvenzgläubiger dem Plan zustimmen; und unstrittig ist, dass ein einstimmig abgenickter Plan vom Insolvenzgericht auch dann bestätigt werden kann, wenn er Dritte von ihren Schulden befreit.
Die juristische Bewältigung der Opioid-Krise dürfte damit noch lange nicht an ihrem Ende angelangt sein. Auch abseits der Gerichte setzt sie sich fort: Noch heute sterben in den USA jedes Jahr mehr als 70.000 Menschen an den Folgen einer Opioid-Überdosis.
Der Autor Rechtsanwalt Dr. Theodor Shulman, LL.M. (Harvard) ist Rechtsanwalt bei Redeker Sellner Dahs Rechtsanwälte PartG mbB in München und war von 2015 bis 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.