Streit um Vorrang von EU-Recht: Scharfe Kritik an Vergleichen mit BVerfG

Bei der Verteidigung einer höchst umstrittenen Justizentscheidung zum Verhältnis von polnischem Recht und EU-Recht verweist Polen immer wieder auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Zu Recht? Aus der Bundesregierung und aus Karlsruhe kommen klare Worte zum Thema. Aus Karlsruhe heißt es, Instrumentalisierungen des BVerfG für Projekte, die auf den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zielten, seien "schamlos".

Europastaatsminister: Polnische Gerichtsentscheidung beispiellos

Europastaatsminister Michael Roth hat die polnische Regierung dazu aufgerufen, die umstrittene Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts zum EU-Recht nicht mit Urteilen des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Verbindung zu bringen. "Ich warne davor, Äpfel mit Birnen zu vergleichen", sagte der SPD-Politiker gestern am Rande eines EU-Ministertreffens in Luxemburg. Das, was das Tribunal in Warschau entschieden habe, sei "ohne Beispiel", weil es in bestimmten Bereichen EU-Recht als nicht verbindlich darstelle. "Eine solche Rechtsprechung und eine solche Entscheidung hat es noch in keinem anderen Mitgliedsland gegeben."

Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen EZB-Urteil des BVerfG 

Zugleich räumte Roth ein, dass auch anderswo schon Entscheidungen von nationalen Verfassungsgerichten Kontroversen hervorgerufen haben. Ein Beispiel ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr, mit dem das Gericht ein EuGH-Urteil zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank mit harschen Worten ("objektiv willkürlich", "methodisch nicht mehr vertretbar") vom Tisch wischte. Die EU-Kommission hat wegen der Entscheidung ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil sie im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass EuGH-Urteile immer Vorrang vor nationalem Recht haben. 

BVerfG: Instrumentalisierung des BVerfG für Abbau von Rechtsstaatlichkeit "schamlos"

In Karlsruhe wird unterdessen darauf verwiesen, dass es sich bei der EZB-Entscheidung um einen absoluten Ausnahmefall gehandelt habe und dass in aller Regel europäisches Recht gelte. Ein grundlegender Unterschied der Gerichtsentscheidungen in Polen und Deutschland liegt nach Worten von Gerichtspräsident Stephan Harbarth in der Intention. "Das Bundesverfassungsgericht hat vom EuGH im Verhältnis zur EZB nicht weniger Rechtskontrolle eingefordert, sondern mehr Rechtskontrolle", sagte er jüngst den "Badischen Neuesten Nachrichten". Instrumentalisierungen des Bundesverfassungsgerichts für Projekte, die auf den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zielten, seien "schamlos".

Morawiecki verwies zur Rechtfertigung auf Urteile anderer Länder

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki versuchte zuletzt am Dienstag bei einer Rede im Europaparlament, die umstrittene Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts mit Verweisen auf Urteile in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden zu rechtfertigen. Er verwies dazu darauf, dass auch die obersten Gerichte in anderen EU-Ländern keinen absoluten Vorrang von EU-Recht sehen und warf dem EuGH Kompetenzüberschreitungen vor.

Brüssel: Möglicher Vorwand für Polen zur Ignorierung unliebsamer EuGH-Urteile

In Brüssel wird das polnische Urteil vor allem deswegen als höchst problematisch angesehen, weil es der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des EuGH zu ignorieren. Warschau hat schon angekündigt keine weitere Einmischung bei Justizreformen zu akzeptieren. Teile von dieser gefährden aus Sicht von Kritikern die Unabhängigkeit der polnischen Justiz und verstoßen damit gegen EU-Recht.

Redaktion beck-aktuell, 20. Oktober 2021 (dpa).