Strafen, Radwege, Cannabis: Verkehrsgerichtstag gibt Empfehlungen
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© Swen Pförtner / dpa
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Verkehrsexpertinnen und -experten aus ganz Deutschland und Europa haben sich zum 60. Verkehrsgerichtstag (VGT) in Goslar getroffen. Diskutiert wurden unter anderen die Themen Cannabis, Flexibilität bei der Bestrafung von Verstößen, sicherer Radverkehr sowie die Haftung von langsameren Fahrzeugen. Bei vielen der behandelten Themen gibt es nach Meinung der Sachkundigen Nachholbedarf. Wir geben einen Überblick über die wichtigsten Empfehlungen an den Gesetzgeber.

Angemessene Rechtsfolgen im Ordnungswidrigkeitenrecht

Die Expertinnen und Experten sprechen sich dafür aus, Alternativen zu dem bestehenden Sanktionsinstrumentarium (Geldbuße und Fahrverbot) zu stärken. Konkret empfehlen sie verkehrspsychologische Maßnahmen und vergleichbare Interventionen zur Verhaltensänderung. Sie fordern den Gesetzgeber auf, einen Regelungskatalog für ein Absehen vom Fahrverbot zu erstellen. Außerdem seien berufliche, familiäre und finanzielle Aspekte zu würdigen. Dies führe zu einer bundeseinheitlichen Gleichbehandlung. Gleichzeitig werde durch die höhere Akzeptanz eine Entlastung der Justiz erreicht. In geeigneten Fällen solle ein Fahrverbot auch auf Bewährung ermöglicht werden. Der zuständige Arbeitskreis hält es für erforderlich, die vorhandenen Widersprüche im Bußgeldkatalog durch eine inhaltliche Überprüfung zu beseitigen und die Rechtsfolgen mehr an den Bedürfnissen der Verkehrssicherheit auszurichten. Bisher regelkonformes Verhalten solle bei einem erstmaligen Verkehrsverstoß im Rahmen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden.

Neuer Grenzwert für Cannabis

Der aktuell angewandte THC-Grenzwert soll nach Meinung der Sachkundigen angehoben werden. Er liege mit 1,0 ng THC pro ml Blutserum so niedrig, dass er zwar den Nachweis des Cannabiskonsums ermöglicht, aber nicht zwingend einen Rückschluss auf eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung zulässt. Dies führe in der Praxis dazu, dass in einem nicht vertretbaren Umfang Betroffene sanktioniert würden, bei denen sich eine "Wirkung" im Sinn einer möglichen Verminderung der Fahrsicherheit aus wissenschaftlicher Sicht nicht tragfähig begründen lässt. Der Arbeitskreis empfiehlt daher, dem Gesetzgeber aufzugeben, den Grenzwert angemessen heraufzusetzen. Da nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft für Cannabis weder im Strafrecht noch im Ordnungswidrigkeitenrecht mit Alkohol vergleichbare Grenzwerte festgelegt werden könnten, schlägt der Arbeitskreis jedoch keinen neuen Grenzwert vor.

Mehr Radverkehr mit mehr Verkehrssicherheit

Um die Sicherheit des Radverkehrs zu verbessern, seien insbesondere eine neue Aufteilung des Verkehrsraumes und die Schaffung durchgängig sicher befahrbarer Radnetze erforderlich. Die Expertinnen und Experten erwarten, dass die vorhandenen Regelwerke zur Planung und zum Bau von Radverkehrsanlagen als Mindeststandard verbindlich umgesetzt werden. Die Bundesländer werden aufgefordert, eine wirksame Qualitätskontrolle auch hinsichtlich der fehlerverzeihenden und intuitiv nutzbaren Infrastruktur zu entwickeln und zu implementieren. Zudem müssten die personellen Kapazitäten von Ordnungsbehörden und Polizei aufgestockt und die entsprechenden Aktivitäten intensiviert und koordiniert werden. In diesem Zusammenhang beklagt der zuständige Arbeitskreis, dass die Empfehlung des VGT von 2017 zu Fahrradstaffeln bisher nur unzureichend umgesetzt wurde. Zudem fordert der Arbeitskreis mehr Verkehrsausbildung und Fahrsicherheitstrainings sowie eine verstärkte Integration dieser Themen in die Lehrpläne der Schulen. Schließlich seien Maße und Gewichte insbesondere von Pedelecs, Lastenrädern und Gespannen zu begrenzen.

Reha-Management Schwerstverletzter nach Verkehrsunfällen

Die Sachkundigen halten weiter ein objektives und neutrales Rehabilitationsmanagement im Interesse des Verletzten für zwingend erforderlich. Nach einem schweren Personenschaden komme es beim Übergang von einer Akutbehandlung im Krankenhaus in die Rehabilitation häufig zu Verzögerungen und zu erheblichen Defiziten an Versorgungsangeboten. Das gefährde den Heilungserfolg. Daher bestehe hier dringender Handlungsbedarf. Über die Vorzüge dieses Managements sollten alle an der Genesung beteiligten Berufsgruppen (Ärztinnen und Ärzte, Versicherer, Verkehrsanwältinnen und -anwälte und Reha-Dienstleister) aktiv informieren. Der Gesetzgeber werde aufgerufen, das Versorgungsdefizit zeitnah zu beseitigen

Beurteilung der Fahreignung durch das Strafgericht und die Fahrerlaubnisbehörde

Derzeit kann die Fahreignung sowohl durch das Strafgericht als auch durch die Fahrerlaubnisbehörde beurteilt und entsprechend die Fahrerlaubnis entzogen werden. Dabei sind die Verwaltungsbehörden an den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt gebunden. Der Deutsche Anwaltverein hatte sich im Vorfeld gegen eine Beibehaltung dieser Bindungswirkung geäußert, da das Ziel des Gesetzgebers, widersprüchliche Entscheidungen zulasten des Betroffenen zu vermeiden, in vielen Fällen verfehlt werde. Der zuständige Arbeitskreis hat sich nunmehr dafür ausgesprochen, die Doppelkompetenz grundsätzlich beizubehalten. Das Strafgericht müsse seine Entscheidung nachvollziehbar begründen. Dadurch werde die Bindungswirkung gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde sichergestellt. Allerdings müssten Fortbildungen im Verkehrsverwaltungsrecht bei den Strafgerichten, Strafverfolgungsbehörden und in der Anwaltschaft intensiviert werden. Eine entsprechende Spezialisierung innerhalb der Strafgerichte sei wünschenswert.

Haftungsrecht nicht mehr zeitgemäß

Schließlich sprechen sich die Sachkundigen für eine grundlegende Reformierung von § 8 Nr. 1 StVG aus. Der generelle gesetzliche Ausschluss der Gefährdungshaftung für langsam fahrende Kraftfahrzeuge sei angesichts der geänderten Verhältnisse im Straßenverkehr nicht mehr zeitgemäß. Das Gefährdungspotential von land- und forstwirtschaftlichen Kraftfahrzeugen sowie Baufahrzeugen und sonstigen selbstfahrenden Arbeitsmaschinen, die bauartbedingt maximal 20 km/h fahren können, habe sich im Laufe der Zeit aufgrund höherer Geschwindigkeiten der anderen Verkehrsteilnehmenden sowie geänderter technischer Ausmaße und Ausstattungen deutlich erhöht. Das Gefährdungspotential neuer Typen langsam fahrender Kraftfahrzeuge, die bauartbedingt zwischen 6 km/h und 20 km/h fahren können, wie etwa E-Scooter, erscheine insbesondere wegen der erwartbaren Zunahme der Nutzung und der Enge des Verkehrsraums so hoch, dass sie ebenfalls der Gefährdungshaftung unterfallen sollten.

Rückblick auf VGT-Themen der letzten 10 Jahre

Anlässlich des 60. VGT-Jubiläums hat der VGT einen Rückblick über seinen Einfluss der letzten zehn Jahre veröffentlicht. Einige der vom VGT in dieser Zeit angestoßenen Themen sind die sogenannte Section Control, also die Geschwindigkeitserfassung über eine gewisse Entfernung, die rechtliche Einordnung von Pedelecs, die Reform des Punktesystems, Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit von Geschwindigkeitsmessungen, die zivil- bzw. strafrechtlichen Implikationen von automatisiertem Fahren, die Figur des fiktiven Schadensersatzes bei Sachschäden durch einen Verkehrsunfall, Haftung bei Leasing und Finanzierung, eine Reform der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU), der "Handy-Verstoß" beim Führen eines Kraftfahrzeugs im Sinne des § 23 Abs. 1a, 1b StVO, das unerlaubte Entfernen vom Unfallort gemäß § 142 StGB, Reformbestrebungen bei der Fahrausbildung sowie die Verwertbarkeit bzw. Zulässigkeit sogenannter Dashcam-Aufnahmen.

Miriam Montag, 22. August 2022.