Der Briefkasten quillt förmlich über. Seit Monaten hat der Mann, bei dem sich Langzeitarbeitslosigkeit, psychische Probleme und Alkoholkonsum gegenseitig bedingen, nicht mehr in seine Post geguckt. Das Wenige, was er mitgenommen hat, stapelt sich ungelesen auf seinem Küchentisch. Rechnungen bezahlt er seit langem nicht mehr, er könnte es auch nicht. Er hofft, dass wenn er sie ignoriert, auch andere nicht mehr daran denken mögen – wie ein Kind, das sich die Augen zuhält, in der Hoffnung, nicht mehr gesehen zu werden.
In der Post findet sich auch ein Brief des örtlichen Amtsgerichts. Würde er diesen öffnen, wüsste der Mann, dass er strafrechtlich verurteilt wurde. Ohne eine Anklage, ohne eine Verhandlung. Selbst an die Tat erinnert er sich kaum, den grauen Januar-Tag, als er wieder einmal ohne Fahrschein in die Bahn gestiegen war. Das geschieht so oder so ähnlich viele Male im Jahr. Nicht in irgendeinem Land, sondern in Deutschland. Möglich macht es der Strafbefehl.
Der Strafbefehl ist ein Instrument der deutschen Justiz, um die zahlreichen Fälle täglicher Kleinkriminalität möglichst schnell und effizient abzuarbeiten. Er ermöglicht es, ohne eine öffentliche Hauptverhandlung eine Sanktion zu verhängen. Es findet kein Gerichtstermin statt, die Entscheidung kommt einfach per Post beim Beschuldigten an. Im Bereich der Bagatelldelikte ist der Strafbefehl heute die Regel, eine Anklage die krasse Ausnahme. In Baden-Württemberg etwa erfolgen ganze 97% der Verurteilungen zu Geldstrafen per Strafbefehl, teilte das Landesjustizministerium im vergangenen Jahr mit.
Wer keinen Einspruch erhebt, gilt als verurteilt
Die Grundlage bilden die §§ 407 ff. StPO. Darin ist unter anderem geregelt, dass Strafbefehle nur bei Vergehen auf schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft ergehen dürfen. Sie dürfen nur eine Geldstrafe aussprechen, es sei denn, der oder die Beschuldigte ist anwaltlich vertreten. Dann ist es auch möglich, eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu verhängen. Auch eine Entziehung der Fahrerlaubnis oder eine Einziehung können angeordnet werden.
Die Staatsanwaltschaft stellt einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen von der Schuld überzeugt ist und eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich erachtet. Dabei schlägt sie auch ein Strafmaß vor. Auf den Antrag hin prüft das Gericht den Fall summarisch und entscheidet dann, ob es den Angeschuldigten für hinreichend verdächtig hält oder nicht. Im ersten Fall erlässt es den Strafbefehl, anderenfalls wird der Antrag abgelehnt. Bei Bedenken kann das Gericht auch eine Hauptverhandlung anberaumen.
Der Angeschuldigte ist nicht schutzlos gegen einen solchen Strafbefehl, alles andere würde dem grundgesetzlich verbrieften Recht auf rechtliches Gehör nicht gerecht. Nach der Zustellung hat er zwei Wochen Zeit, um Einspruch einzulegen. Tut er das, geht die ganze Sache doch vor Gericht und wird im Wesentlichen nach den üblichen Vorschriften verhandelt. Tut er es jedoch nicht, steht der Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich (§ 410 Abs. 3 StPO).
Hessische Anwältinnen und Anwälte bieten kostenlose Strafverteidigung an
Wo liegt also das Problem? Das Institut des Strafbefehls sieht sich seit langer Zeit immer lauter werdender Kritik ausgesetzt, die längst nicht mehr nur in Fachzeitschriften artikuliert wird. Auch Stimmen wie der Journalist Ronen Steinke kritisieren die Ungerechtigkeiten, zu denen sie führten. Ganz aktuell befasst sich damit ein Forschungsprojekt, das gleichzeitig ein gemeinnütziges Projekt der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger*innen e.V. ist. Das Projekt startet am 1. April und soll Menschen, die Strafbefehle erhalten haben, eine kostenlose Strafverteidigung anbieten. Hierfür sollen sich Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger aus ganz Hessen zur Verfügung stellen.
"Es gilt der Grundsatz 'Keine Strafe ohne Schuld'", erklärt Carolin Weyand, Partnerin der Frankfurter Wirtschaftstrafrechtskanzlei Rettenmaier und Vorstandsvorsitzende der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger*innen, im Gespräch mit beck-aktuell. Dass die Schuld beim Strafbefehl lediglich in einem summarischen Verfahren festgestellt werde, nehme der Staat hin, weil schließlich die Möglichkeit bestehe, Einspruch einzulegen. "Das Problem ist aber, dass Strafbefehle vor allem Obdachlose, psychisch Kranke, Drogenabhängige oder auch Rentner am Rand der Geselllschaft betreffen. Ein Großteil versteht den Strafbefehl inhaltlich nicht", gibt Weyand zu bedenken. Viele hielten den Brief, wenn sie ihn überhaupt öffneten, für einen Bußgeldbescheid. "Schon die Sprache ist sehr formalistisch und selbst für einen gebildeten Durchschnittsbürger schwer zu verstehen." Sie fragt: "Wo ist da der Verzicht auf eine öffentliche Hauptverhandlung, wenn der Regelungsgehalt schon gar nicht verstanden wird?"
"Der Mensch geht ins Gefängnis, ohne je einen Richter gesehen zu haben"
Ein weiteres Problem, das Verteidigerin Weyand schildert, hängt mittelbar mit dem Strafbefehl zusammen. Der typische Strafbefehl betreffe nämlich Armutskriminalität, führt Weyand aus. Das führe dazu, dass die verhängten Geldstrafen oft nicht bezahlt werden könnten. In einem solchen Fall kann der bei der Staatsanwaltschaft zuständige Rechtspfleger eine Ersatzfreiheitsstrafe anordnen (§ 459e Abs. 1 StPO). "Der Mensch geht ins Gefängnis, ohne je einen Richter gesehen zu haben", so Weyand.
In der Tat ist der Anteil an Ersatzfreiheitsstrafen unter den in Deutschland Inhaftierten hoch: Je nach Bundesland liegt er zwischen 5 und über 10%, wie sich aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag ergibt. Das Problem wird dadurch noch verschärft, dass in nur 10% der Fälle Ermittlungen zum Einkommen angestellt werden, wie eine Studie zur sozioökonomischen Ungleichheit im Strafverfahren 2020 ergab. Das Einkommen bildet aber die Grundlage für die Berechnung einer Geldstrafe. In solchen Fällen wird die Einkommenshöhe schlicht geschätzt – mit dem Risiko, einen Betroffenen finanziell zu überfordern.
Staatsanwalt teilt Kritik aus der Anwaltschaft
Diese Kritik adressiert die Justiz. Und dort wird sie jedenfalls von einigen geteilt. Simon Pschorr, Staatsanwalt und abgeordneter Praktiker an der Universität Konstanz sowie Sprecher der Fachgruppe Strafrecht der Neuen Richtervereinigung, bestätigt gegenüber beck-aktuell, man führe "deutlich zu wenig Ermittlungen zu Vermögensverhältnissen bei Bagatelldelikten". Dies habe aber, so Pschorr, einen rechtlichen Grund: "Eine solche Erforschung verstärkt den Grundrechtseingriff, der mit den Ermittlungen verbunden ist. Man muss Bankabfragen machen, bei Arbeitgebern nachfragen, das führt zu einer vertieften Belastung der Beschuldigten, die bei solchen Delikten oft unverhältnismäßig ist."
Die Schätzungen wirkten sich in der Praxis laut Pschorr eher zugunsten der Betroffenen aus, da man in der Regel mit einem Tagessatz von 30 Euro kalkuliere, was einem monatlichen Nettoeinkommen von 900 Euro entspreche. Hart betroffen seien allerdings Sozialleistungsempfänger, räumt Pschorr ein. Deren Einkommen liege unter der Regelschätzung, womit sie finanziell über Gebühr belastet würden. Als Arbeitsersparnis für die Justiz will er die begrenzte Erforschung indes nicht verstanden wissen: "Die Sachverhaltsaufklärung ist eine genuine Aufgabe der Justiz. Wenn wir das nicht mehr könnten, müsste das Land im Zweifel an der Finanzierung nachbessern."
Bewährungsstrafe im Strafbefehl "gefährlich"
Auf den Strafbefehl als solchen will Pschorr indes nicht verzichten, sei er doch im Umgang mit Massendelinquenz unverzichtbar. Und auch Rechtsanwältin Weyand will ihn nicht abschaffen – sie wehrt sich eher gegen eine Ausweitung seines Anwendungsbereichs, wie es die Justizministerinnen und Justizminister in ihrer Herbstkonferenz 2022 noch intendiert hatten. Sie regten an, zu prüfen, ob man das Strafbefehlsverfahren nicht "maßvoll" erweitern könnte, sodass beispielsweise eine Freiheitsstrafe auf Bewährung auch über einem Jahr ausgesprochen oder auch Verbrechen erfasst werden könnten. "Man will die Justiz auf Kosten der Schwächsten unserer Gesellschaft entlasten" prangert Weyand an.
Pschorr ist ebenfalls gegen eine Ausweitung: Schon der Strafbefehl bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe sei ein "gefährliches Instrument" sagt er. Bereits heute sehe man in der Praxis oft Fälle, in denen Betroffene gegen ihre Bewährungsauflagen verstießen, weil sie diese schlicht nicht verstünden. Teils komme es auch zu mehreren Strafbefehlen hintereinander. In Summe stehe dann am Ende manchmal doch eine (umfangreiche) Haftstrafe.
Pflichtverteidigung für alle?
Was aber könnte man am Status Quo ändern, der in den Augen der Kritikerinnen und Kritiker bereits mehr als unbefriedigend ist? Weyand will mit ihrem Projekt neben der kostenlosen Verteidigung von Beschuldigten auch Daten generieren, um Missstände konkret benennen zu können. Aus diesem Grund wird das auf ein Jahr angelegte Projekt wissenschaftlich begleitet von Matthias Jahn, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo eine Doktorandin für ihre Dissertation an dieser Aufgabe arbeitet.
Forderungen gibt es dennoch bereits: "Niemand darf unverteidigt vor Gericht stehen!" und "Kein Strafbefehlsverfahren ohne Verteidiger*in!" propagiert das "Projekt Strafbefehl" öffentlich. Eine notwendige Verteidigung in allen Fällen also? Carolin Weyand meint das ernst, wenngleich es eine "freche Forderung" sei, wie sie einräumt.
Staatsanwalt Pschorr kann der Idee einer notwendigen Verteidigung für alle Strafbefehlsempfänger viel abgewinnen und verweist dazu auf unionsrechtliche Verpflichtungen Deutschlands. Nach der EU-Richtlinie zur Prozesskostenhilfe 2016/1919 darf der Zugang zu einem Strafverteidiger nicht von den finanziellen Mitteln des oder der Beschuldigten abhängen. Für eine effektive Umsetzung dieser Richtlinie, so Pschorr, müssten gerade finanziell benachteiligte Personen eine Pflichtverteidigung erhalten.
Gesetzesinitiative geplant
Das Projekt der hessischen Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger erfreut sich derweil eines erfreulichen Zulaufs, findet Organisatorin Weyand: "Über 100 Kolleginnen und Kollegen aus Hessen haben sich angemeldet und ich glaube, dass es noch mehr werden." Um Betroffene mit dem Projekt zu erreichen, hat die Vereinigung Richterinnen und Richter kontaktiert und dafür geworben, dem Strafbefehl einen Flyer beizulegen. Dieser ist in drei Sprachen verfasst und enthält einen QR-Code, der zu dem Text in weiteren Sprachen führt.
Anwaltliches Engagement allein kann aber aus Sicht der Initiatorinnen und Initiatoren das Problem nicht lösen, zumal Pro-Bono-Arbeit im Anwaltsberuf prinzipiell gar nicht erlaubt ist: Ein Fördertopf der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger*innen finanziert das Projekt, sodass auf Grundlage der gesetzlichen Gebühren abgerechnet werden kann. Da die Möglichkeiten der Anwaltschaft somit endlich sind, soll am Ende der einjährigen Laufzeit auch eine Gesetzesinitiative stehen, welche die aus Sicht der Projektverantwortlichen notwendigen Reformen anstoßen soll.