Streit um Untersagung eines geplanten Streiks
Die Gewerkschaft hatte sich mit ihrer Klage gegen ein im einstweiligen Verfügungsverfahren ergangenes Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 09.09.2015 gewandt, durch das ihr die Durchführung eines Streiks sowie der Aufruf ihrer Mitglieder zum Streik untersagt worden waren. Das LAG hielt den Streik für offensichtlich rechtswidrig, da die Gewerkschaft ihn zumindest auch gegen Pläne des Arbeitsgebers zum Konzernumbau gerichtet und damit ein unzulässiges Streikziel verfolgt habe. Denn Art. 9 Abs. 3 GG schütze Arbeitskämpfe nur, wenn sie um ein tariflich regelbares Ziel geführt würden. Bei einem Streik gegen die Unternehmensausrichtung sei dies nicht der Fall.
Gewerkschaft berief sich auf "Mehrgewährleistung" des Landesrechts
Die Antragstellerin sieht sich durch dieses Urteil in ihrem durch Art. 29 Abs. 4 der Hessischen Verfassung (HV) garantierten Streikrecht verletzt. Das Hessische LAG habe verkannt, dass die Hessische Verfassung das Streikrecht – im Unterschied zu Art. 9 Abs. 3 GG – umfassend gewährleiste, also insbesondere nicht auf Streikziele beschränke, die tarifvertraglich regelbare Gegenstände beträfen. Die Hessische Landesverfassung enthalte insoweit nämlich eine Mehrgewährleistung gegenüber dem Grundgesetz.
Grundrechtsklage wegen inhaltsgleicher Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig
Der StGH hat entschieden, dass die Grundrechtsklage bereits unzulässig ist, da sich die Gewerkschaft mit inhaltsgleichem Klageziel – nämlich der Feststellung einer Verletzung ihres verfassungsmäßig garantierten Streikrechts – im Wege der Verfassungsbeschwerde zugleich an das Bundesverfassungsgericht gewandt hat. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG führe eine in derselben Sache zum BVerfG erhobene Verfassungsbeschwerde zur Unzulässigkeit der Grundrechtsklage.
Ausnahme greift nicht
Zwar könne ausnahmsweise in gleicher Sache eine Grundrechtsklage zum StGH neben einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben werden, wenn die Hessische Verfassung einen weitergehenden Grundrechtsschutz gewährleistet als das Grundgesetz (§ 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG). Im konkret entschiedenen Fall bestand jedoch nach Auffassung des StGH für die Gewerkschaft kein weiterreichendes Streikrecht aus der Hessischen Verfassung.
Weitergehendes Streikrecht nicht zulässig
Der StGH hat dahinstehen lassen, ob sich aus der Verfassungsvorschrift des Art. 29 Abs. 4 HV bei isolierter Betrachtung ein über die Gewährleistung von Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehendes Streikrecht herleiten lässt. Denn das Hessische Landesarbeitsgericht habe jedenfalls unter Berücksichtigung der Kollisionsnormen von Art. 31 GG und Art. 142 GG der Gewerkschaft kein Streikrecht zubilligen dürfen, das über dasjenige aus Art. 9 Abs. 3 GG hinausreiche. Nach Art. 142 GG blieben Grundrechte der Landesverfassungen nur in Kraft, soweit sie mit den im Grundgesetz gewährleisteten Grundrechten übereinstimmten; bei Widersprüchen der Schutzbereiche löse Art. 31 GG den Konflikt zugunsten der bundes(verfassungs)rechtlichen Regelung. Das sei hier der Fall.
Widerspruch zum Grundgesetz
Denn die Gewährung des Streikrechts für die Gewerkschaften gehe notwendigerweise mit einer Einschränkung der Grundrechtssphäre der Arbeitgeber aus Art. 12 GG (Unternehmensautonomie) und Art. 14 GG (Unternehmenseigentum) einher. Würde nun Art. 29 Abs. 4 HV auf Landesebene ein Streikrecht gewährleisten, das über das von der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 3 GG entwickelte hinausginge, beschränkte das landesverfassungsrechtliche Grundrecht die in Art. 12 und Art. 14 GG geschützten Grundrechte der Arbeitgeber weitergehend als das bundesverfassungsrechtliche Komplementärgrundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG. Ein derart weitergehender Gewährleistungsgehalt des hessischen Streikrechts stünde dann aber nicht in Übereinstimmung, sondern in teilweisem Widerspruch zum Grundgesetz. In solchen Fällen dürfe das weitergehende Landesrecht nicht angewendet werden. Dies folge aus Art. 31 GG, wonach Bundesrecht das Landesrecht bricht.
Argument des "Gesetzesvorbehalts" greift nicht
Den Einwand der Antragstellerin, nach dem die Grundrechte in Art. 12 GG und Art. 14 GG unter einem sogenannten Gesetzesvorbehalt stünden, also durch Landesrecht – mithin "erst recht" durch Landesverfassungsrecht – eingeschränkt werden dürften, hat der StGH im Ergebnis als nicht durchgreifend erachtet. Denn eine den Schutzbereich eines Grundrechts beeinträchtigende Rechtsnorm müsse aufgrund rechtsstaatlicher Anforderungen durch hinreichende Klarheit, Bestimmtheit und Vollständigkeit geprägt sein. Dies sei bei der ganz allgemein gehaltenen Regelung des Art. 29 Abs. 4 HV nicht der Fall.
Grundrechtliche Mehrgewährleistungen im Verhältnis Bürger – Staat möglich
Nach Ansicht des StGH verliert die Hessische Verfassung bei dieser Sichtweise auch nicht an Bedeutung. Denn die Besonderheit des vorliegenden Falles bestehe darin, dass Grundrechte mehrerer Grundrechtsträger – nämlich der Gewerkschaft einerseits und der Arbeitgeber andererseits – gleichzeitig betroffen seien. Dagegen seien im Verhältnis des Bürgers zum Staat grundrechtliche Mehrgewährleistungen in der Landesverfassung unproblematisch möglich; die Hessische Verfassung könne daher jedenfalls in diesem Bereich über das Grundgesetz hinausgehende Regelungen treffen und Akzente setzen.
Drei StGH-Mitglieder anderer Meinung
Die StGH-Mitglieder Ute Sacksofsky, Jürgen Gasper und Paul Leo Giani haben der Entscheidung eine abweichende Meinung beigefügt. Sie sind der Auffassung, die Zulässigkeit der Grundrechtsklage sei zu Unrecht abgelehnt worden. Die Entscheidung der Mehrheit werde dem Stellenwert der Landesverfassungen und der Landesverfassungsgerichte im föderalen System nicht gerecht. Die Frage, ob Art. 29 Abs. 4 HV ein weiterreichendes Streikrecht gewährleiste als Art. 9 Abs. 3 GG in seiner restriktiven Auslegung durch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung und die überwiegende Auffassung in der Literatur, hätten erörtert werden müssen. Es gebe kein Bundesrecht, welches Landesrecht im vorliegenden Fall nach Art. 31 GG "brechen" könne. Denn es existiere keine bundesrechtliche Norm, die genau definiere, wann Streikmaßnahmen zulässig oder unzulässig seien. Die Konkretisierung der grundgesetzlichen Normen obliege primär dem demokratisch unmittelbar legitimierten (Bundes)Gesetzgeber, der von dieser Möglichkeit aber bis heute keinen Gebrauch gemacht habe. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die die Voraussetzungen zulässiger Streiks im Einzelnen ausziseliert habe, ersetze die Arbeit des Gesetzgebers nicht und könne weder den Landesgesetzgeber noch den StGH binden.