Steinmeier bleibt Bundespräsident – Seine Rede zur Wiederwahl
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Frank-Walter Steinmeier bleibt für weitere fünf Jahre Bundespräsident. Der 66-Jährige wurde gestern in Berlin von der Bundesversammlung in seinem Amt bestätigt. In seiner Rede tritt Steinmeier für die Demokratie ein und betont – auch mit Blick auf den Konflikt in Osteuropa und autoritäre Systeme in anderen Staaten – ihre Stärke. Im Zusammenhang mit der Pandemie und Corona-Kritikern betont Steinmeier, dass eine Demokratie die Kontroverse braucht. Allerdings sei eine Grenze dort zu ziehen, wo Hass und Gewalt im Spiel seien.

Die Rede des wiedergewählten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Wortlaut:

"Ich danke Ihnen! Ich danke für das Vertrauen derer, die für mich gestimmt haben. Und ich bitte um das Vertrauen derer, die das heute nicht tun konnten. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein überparteiliches, und ich verspreche Ihnen, so werde ich es weiterführen. Meine Verantwortung gilt allen Menschen, die in unserem Lande leben.

Deshalb: Überparteilich werde ich sein, ja – aber ich bin nicht neutral, wenn es um die Sache der Demokratie geht. Wer für Demokratie streitet, der hat mich auf seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben.

Meinen Damen und Herren, verehrte Delegierte, dass Sie mir dieses Amt für weitere fünf Jahre anvertrauen, das bewegt mich sehr. Eine Ehre, eine Freude.

Meine Freude aber wäre größer, wenn die Bundesversammlung unter anderen Bedingungen stattfinden könnte, ohne die Beschränkungen der Pandemie.

Aber wichtiger noch: Meine Freude wäre größer, wenn unsere Bundesversammlung nicht in eine Zeit der Sorge fiele, Sorge um den Frieden in Europa.

Die Abwesenheit von Krieg, meine Damen und Herren, auf unserem Kontinent, die war uns zur Gewohnheit geworden. Geschützt von Freunden, in Frieden mit den Nachbarn, seit über 30 Jahren wiedervereint. Welch ein Glück für unser Land. Doch in diesen Tagen lernen wir neu, was wir hätten wissen können: Frieden ist nicht selbstverständlich. Er muss immer wieder erarbeitet werden, im Dialog, aber wo nötig auch mit Klarheit, mit Abschreckung, mit Entschlossenheit. Meine Damen und Herren, alles das braucht es jetzt.

Und zur Klarheit gehört dann auch eines: Man mag viel diskutieren über die Gründe der wachsenden Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung.

Und Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen. Es ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein. Aber die Menschen dort, die haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung, auf Selbstbestimmung und Souveränität. Kein Land der Welt hat das Recht, das zu zerstören – und wer es versucht, dem werden wir entschlossen antworten.

Nicht nur in der Ukraine, in vielen Ländern Osteuropas wächst die Angst. Deshalb stehen wir an der Seite der Esten, der Letten und Litauer, wir stehen gemeinsam mit Polen, Slowaken und Rumänen und allen Bündnis-Partnern: Sie können sich auf uns verlassen.

Deutschland ist Teil der Nato und der Europäischen Union. Ohne sie würden wir Deutsche heute nicht in Einheit und Freiheit leben. Das vergessen wir nicht. Und deshalb, meine Damen und Herren: Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu den Verpflichtungen in diesem Bündnis.

Verehrte Delegierte, unsere Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft liberaler Demokratien, die die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt.

Ich weiß wohl: In den Augen von autoritären Herrschern gelten demokratische Institutionen als schwach. Dort, wo alle Macht in einer Hand konzentriert ist, verachtet man eine Versammlung wie diese als mehr oder weniger belangloses Ritual.

Dort gelten demokratische Entscheidungsprozesse als Schwäche, das Recht als Bremsklotz, das Bemühen um Freiheit und Glück der Bürgerinnen und Bürger als naiv.

Aber, meine Damen und Herren, ich kann Präsident Putin nur warnen:

Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!

Warum bin ich da so sicher? Unsere Demokratie ist stark, weil sie getragen wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern. Weil sie ihre Kraft nicht mit Unterdrückung, nicht mit Drohungen nach außen und Angst im Inneren erkauft. Weil sie den Menschen mehr zu bieten hat als Ideen von nationaler Größe und Herrschaft über andere. Demokratien sind nicht alle gleich, nein. Aber sie sind im Inneren miteinander verwandt. Und auch das verbindet uns: Wir suchen nicht die Konfrontation nach außen. Das ist die gleichlautende Botschaft aus Washington, Paris und Berlin in diesen Tagen: Wir wollen friedliche Nachbarschaft im gegenseitigen Respekt.

Und meine Damen und Herren, das sage ich auch deshalb, weil sich bald zum 50. Mal die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki jährt:

Möge dieser Jahrestag nicht der Anlass sein, an dem wir uns in Ost und West das Scheitern der Bemühungen um dauerhaften Frieden in Europa eingestehen müssen.

Arbeiten wir im Gegenteil für die Erneuerung dieses kostbaren Erbes.

Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!

Unsere Demokratie ist stark, verehrte Delegierte – und auch die heutige Versammlung ist ein selbstbewusster Ausdruck dieser Stärke.

Schauen Sie sich um in dieser großen Runde: Dass Sie alle heute hier sind, aus allen Teilen unseres Landes, allen Widrigkeiten der Pandemie zum Trotz, das zeigt doch: Wir achten unsere demokratischen Institutionen. Wir wissen, dass diese Demokratie von der Vielfalt lebt, die Sie alle heute hier in diesem Saal miteinander repräsentieren.

Diese Versammlung, finde ich, zeigt noch etwas: Es gibt in diesem Land, jenseits der Logik von Regierung und Opposition, eine ganz breite Mehrheit für die Stärkung unserer Demokratie. So verstehe ich Ihren Auftrag. Und dafür will ich mein Bestes geben.

Ich will an dieser Stelle aber auch meinen Respekt ausdrücken für meine Mitbewerberin und Mitbewerber in dieser Wahl.

Und gestatten Sie mir, sehr geehrter Professor Trabert, noch ein zusätzliches Wort. Sie haben mit Ihrer Kandidatur auf ein Thema aufmerksam gemacht, das mehr Aufmerksamkeit verdient: die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten in unserem Land. Dafür, Herr Trabert, gebührt Ihnen nicht nur Respekt, sondern ich hoffe, dass Ihr Impuls erhalten bleibt. Das Thema Obdachlosigkeit beschäftigt uns beide, Sie wissen es, seit langer Zeit. Warum schauen wir nicht, ob wir diesem drängenden Thema gemeinsam mehr Aufmerksamkeit verschaffen können?

Herr Trabert, ich würde mich freuen, wenn wir darüber ins Gespräch kämen.

Verehrte Delegierte, unterschätzen wir nicht die Stärke der Demokratie – aber unterschätzen wir auch nicht die Herausforderungen, vor denen sie steht.

Gegner der Demokratie, von außen und von innen, säen in der Pandemie Zweifel an unserer Handlungsfähigkeit, an unseren Institutionen, an der freien Wissenschaft, an freien Medien.

Ja, es stimmt: Unser Weg heraus aus der Pandemie ist kein geradliniger. Es gab Fehler, es gab Fehleinschätzungen, auch bei uns.

Aber, meine Damen und Herren, man zeige mir ein autoritäres System, das besser durch diese Krise gekommen wäre. Oder haben sich die selbsternannten starken Männer in aller Welt nicht in Wahrheit selbst entzaubert in dieser Krise? Standen die Kaiser mit ihren protzigen Kleidern, ihren Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien, nicht am Ende ziemlich nackt da?

Der entscheidende Durchbruch, meine Damen und Herren, verehrte Delegierte, im Kampf gegen die Pandemie, die Impfstoff-Entwicklung in Rekordzeit – die gelang hier, in der freien Wissenschaft, dank brillanten Forscherinnen und mutigen Unternehmern, hier in Mainz, in Deutschland, mit unseren Partnern in Europa und den USA. Und wir sollten, bei aller Selbstkritik, die notwendig ist, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, meine Damen und Herren.

Wenn ich auf unser Land blicke, dann sehe ich Menschen, die sich Monat für Monat durch diese Pandemie kämpfen – und zwar nicht, weil sie mit eiserner Hand dazu gezwungen werden. Sondern weil sie immer wieder selbst darum ringen, das Richtige zu tun, durchzuhalten, anzupacken! Die übergroße Mehrheit in unserem Land handelt verantwortungsvoll und solidarisch – seit zwei langen Jahren, die sich für viele anfühlen wie eine Ewigkeit. Als Ihr alter und Ihr neuer Bundespräsident möchte ich Ihnen von Herzen danken für diesen großen, gemeinsamen Kraftakt! Ganz herzlichen Dank dafür, meine Damen und Herren.

Aber wir spüren auch das andere. Wir spüren: Nach zwei Jahren Pandemie macht sich Frust breit, auch Enttäuschung, zunehmend Gereiztheit. Wir haben uns aufgerieben im Streit um den richtigen Weg, im Streit weit über die Politik hinaus, in den Betrieben, an den Schulen, unter Freunden und Kollegen, bis hinein in jede Familie.

Die Pandemie hat tiefe Wunden geschlagen in unserer Gesellschaft. und ich möchte dabei helfen, diese Wunden zu heilen. Aber denen, die Wunden aufreißen, die in der Not der Pandemie Hass und Lügen verbreiten, die von «Corona-Diktatur» fabulieren, und sogar vor Bedrohung und Gewalt nicht zurückschrecken, gegen Polizistinnen, Pflegekräfte und Bürgermeister – denen sage ich: Ich bin hier, ich bleibe. Ich werde als Bundespräsident keine Kontroverse scheuen, Demokratie braucht Kontroverse. Aber es gibt eine rote Linie und die verläuft bei Hass und Gewalt! Und diese rote Linie müssen wir halten in diesem Land, meine Damen und Herren.

Ich fürchte: Die Gegner der Demokratie, die werden auch nach dem Ende der Pandemie nicht leiser werden. Sie werden sich neue Themen suchen und vor allem neue Ängste, von denen es reichlich gibt in dieser

Zeit: Werden unsere Kinder noch denselben Lebensstandard haben wie wir heute? Kann ich Schritt halten mit dem Lauf der digitalen Welt?

Fällt unser Land hinten runter im globalen Wettbewerb?

Solche Sorgen, verehrte Delegierte, sind Nährboden für die, die mit der Angst ihr politisches Geschäft betreiben - und ich fürchte, sie tun es, sie werden es tun mit dem großen Thema unserer Zeit: dem Kampf gegen den Klimawandel.

Verehrte Delegierte, diese große Aufgabe, diese Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebensweise auf unserem Planeten, die sucht kein Land, die sucht keine Regierung sich einfach aus. Sie ist nicht weniger als die Überlebensfrage der Menschheit. Und diese Aufgabe bringt uns in eine Epoche des Aufbruchs und des Umbruchs. Mehr Aufbruch, hoffen manche, mehr Umbruch fürchten andere.

Und ich bin überzeugt: Wenn wir aus den großen Umbrüchen einen gemeinsamen Aufbruch machen wollen, dann geht das nicht durch staatliche Verordnung allein.

Dann müssen wir Brücken bauen! Brücken bauen zwischen den Generationen, zwischen den Alteingesessenen und denjenigen, die neu hinzukommen. Brücken zwischen Start-Ups und Hochöfen, Brücken zwischen Großstadt und plattem Land, auch zwischen den Gesprächen in der Kneipe und denen in Brüssel und Berlin. Kurzum, wir brauchen, meine Damen und Herren, Brücken in Richtung Zukunft, die breit und stark genug sind, dass wirklich alle darüber gehen können – und dafür, verehrte Delegierte, will ich arbeiten.

Und ich will das Gespräch darüber mitnehmen ins ganze Land, in die Winkel unserer Gesellschaft, fernab vom Selbstgespräch der Hauptstadt, das viele nicht erreicht. Ich will Orte besuchen, an denen Menschen Verluste erleben – und, ja: Es gibt Verluste. Es gibt Orte, die sich völlig neu erfinden müssen in diesen Jahren. Keiner dieser Orte liegt am Rand der Gesellschaft. Sie alle braucht es für die Zukunft unseres Landes. Sie alle braucht es für neuen Zusammenhalt. Es bleibt unsere gemeinsame Erfahrung: Transformation wird nur gelingen, wenn auch die Schwächeren etwas zu gewinnen haben.

Und jeder, den wir verlieren, fehlt der Demokratie. Solche Gespräche brauchen vor allem eines: Zeit. Die müssen wir uns nehmen, wenn wir nicht dauerhaft aneinander vorbeireden, wenn wir uns nicht in falschen Konflikten verlieren wollen. Ich werde mir diese Zeit nehmen, auf Zeit-Reise gehen durch unser Land.

Der Übergang meiner Amtszeit, meine Damen und Herren, fällt auf den 18. März, den Tag der Märzrevolution und der ersten freien Wahlen in der DDR. An diesem stolzen Tag unserer Demokratiegeschichte beginne ich meine Reise durch die Regionen, und verbringe sehr bewusst den ersten Tag der neuen Amtszeit in Ostdeutschland, und ich freue mich darauf.

Liebe Delegierte, das Vertrauen, das Sie diesem Amt und das Sie mir entgegenbringen, das kann ich wertschätzen. Ich weiß, das ist ein ganz kostbares Geschenk. und Ich verspreche Ihnen: ich werde behutsam und respektvoll damit umgehen.

Auch ein Bundespräsident kann alte Gewissheiten nicht zurückholen.

Natürlich nicht. Aber was er kann: Er kann helfen Zukunftsangst zu nehmen. Er kann helfen, Zuversicht zu geben. Er kann daran erinnern, wie viele Krisen wir in 70 Jahren überwunden haben, erfolgreich überwunden haben. Wie die Ostdeutschen eine Diktatur zu Fall brachten, wie wir mitgebaut haben an einem vereinten Europa! Ein Bundespräsident kann Menschen Mut machen, Verantwortung zu übernehmen, ihnen den Rücken stärken, wo immer sie sich engagieren, Lösungen suchen für die Probleme unserer Zeit.

Vertrauen, liebe Delegierte, Vertrauen in Demokratie ist doch am Ende nichts anderes als Vertrauen in uns selbst. In unserem Grundgesetz steht schließlich nicht: «Alles Gute kommt von oben». Sondern da steht: «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus». Das ist das Versprechen unserer Verfassung an uns Bürger. Und darin liegt auch ein Versprechen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern: «Zieh Dich nicht zurück, sondern übernimm Verantwortung». Das ist die, wenn Sie so wollen, die doppelte Natur der Demokratie: sie ist Versprechen und Erwartung zugleich. Demokratie ist eine Zumutung, ja. Und Mut zu machen zu dieser Zumutung – das genau ist meine Aufgabe, so verstehe ich sie.

Es gibt manche, die sagen, die liberale Demokratie sei auf dem Abstieg. Dieses Jahrhundert, sagen andere, werde das Zeitalter der Autoritären, der harten Hand. Sie merken es: Ich halte nichts von solchen Abgesängen! Nein, verehrte Delegierte, nur eines ist gewiss:

Die Zukunft ist offen. Und auf diese Offenheit hat niemand, kein Autokrat und keine Ideologie, bessere Antworten als die Demokratie!

Also: Machen wir uns nicht selbst klein, verehrte Delegierte! Seien wir nicht ängstlich! Packen wir die Zukunft bei den Hörnern! Mögen die Autoritären doch ihre Eispaläste und Golfressorts bauen. Nichts davon ist stärker, nichts leuchtet heller als die Idee der Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen!

Jede und jeder von Ihnen, hier im Saal und im ganzen Land, jeder, der sich um mehr kümmert als nur um sich selbst – der gewinnt ein Stück Zukunft für uns alle.

Und jede und jeder, der sich engagiert – im Beruf oder im Ehrenamt, im Gemeinderat oder im Verein – der kämpft auch den Kampf um die Zukunft der Demokratie.

Jede und jeder, der anpackt, im Großen und im Kleinen – der bringt die Kraft der Demokratie zum Leuchten.

Liebe Landsleute, Gehen wir's gemeinsam an. Ich jedenfalls freue mich auf das, was vor uns liegt! Herzlichen Dank!"

Redaktion beck-aktuell, 14. Februar 2022 (dpa).