Während aktuell Nachrichten über die bevorstehende Präsidentenwahl in den USA und eine mögliche Wiederwahl des Rechtspopulisten Donald Trump die Medien füllen, ist der deutsche Wahlherbst mit Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg in den Hintergrund der Berichterstattung gerückt.
Dabei ist die Gefahr, dass die AfD nach den bevorstehenden Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern erstmalig auf Länderebene regieren wird, mindestens ebenso präsent wie die einer zweiten Präsidentschaft von Donald Trump. Die Landtagswahlen in Thüringen am 1. September könnten den offen rechtsextremen Thüringer AfD-Fraktionschef Björn Höcke zum Ministerpräsidenten machen. Und was dann? Mit dieser Frage setzen sich der Jurist, Journalist und Autor Maximilian Steinbeis und sein Team im von ihm gegründeten und geleiteten sogenannten Thüringen-Projekt seit Sommer 2023 auseinander.
Das Team um den Betreiber des "Verfassungsblog" erforscht seit gut einem Jahr, wie eine autoritär-populistische Regierung auf Landesebene Demokratie und Rechtsstaat Schaden zufügen und was insbesondere rechtspolitisch dagegen unternommen werden kann. Die Ergebnisse hat Steinbeis nun in seinem Buch "Die verwundbare Demokratie - Strategien gegen die populistische Übernahme" zusammengetragen, welches Ende Juli 2024 erschienen ist.
Rechtspopulisten an der Macht - was dann?
Was ihn dazu motiviert hat, das Thüringen-Projekt zu starten, beschreibt Max Steinbeis so: "Mit Blick auf die Vorgänge in Polen und Ungarn lag für uns schon seit langem die Frage nahe: Was würde ein weiter steigender Einfluss autoritär-populistischer Kräfte oder sogar deren Machtübernahme denn in Deutschland bedeuten? Und uns ist klar geworden, wie wenig wir darüber wissen. Generell ist es so, dass Landesverfassungsrecht rechtswissenschaftlich sehr stiefmütterlich behandelt wird. Viel Wissen darüber ist in der Landtagsverwaltung und den Ministerien verfügbar und dieses Wissen wollen wir mit dem Thüringen-Projekt zugänglich machen."
Dafür haben Steinbeis und sein Team über 120 Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Verwaltung, Politik, Justiz sowie der Zivilgesellschaft geführt. Erschienen sind neben Steinbeis‘ Buch zahlreiche Artikel auf der Website "Verfassungsblog". Das Team bringt außerdem einen Podcast unter dem Namen "Thüringen 2024 - Was wäre wenn?" heraus und hält in ganz Deutschland Vorträge zu den Forschungsergebnissen. Das Projekt wurde und wird durch Spenden finanziert, zu denen das Team über den "Verfassungsblog" aufgerufen hat.
Missbrauchsgefahren vor und nach Regierungsbildung
"Die autoritären Populisten haben einen großen Wissensvorsprung, was den instrumentellen Einsatz von Verfassungsinstitutionen betrifft. Wenn sie ihre Strategien anwenden, um ihren Machterwerb bzw. Machterhalt zu sichern, ist die Gefahr da, dass wir uns davon überrumpeln lassen und vor vollendete Tatsachen gestellt werden", so Steinbeis. Diesem Überrumpelungseffekt will er mit detaillierten Darstellungen entsprechender Szenarien in seinem Buch entgegenwirken. Und gefährlich für Demokratie und Rechtsstaat kann es schon vor der Regierungsbildung unmittelbar nach der Wahl werden.
So könne bereits die Wahl eines Rechtspopulisten zum Landtagspräsidenten den Weg zu einem erdrutschartigen Macht- und Verfassungsmissbrauch etwa bei Ausübung seines Hausrechts im Landtag ebnen, beschreibt Steinbeis im zweiten Teil seines Buchs.
Ebenso wäre es nach aktueller Rechtslage ein leichtes für die AfD-Fraktion, bei einem Wahlsieg mit mehr als einem Drittel der Stimmen die Wahlen zum Landesverfassungsgerichtshof durch eine Sperrminorität zu blockieren. Die Thüringer Landesverfassung sieht in Art. 79 Abs. 3 S. 3 vor, dass die Richter des Verfassungsgerichtshofs "mit der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages auf Zeit gewählt" werden.
Wenn der Richterwahlausschuss blockiert würde
Mit möglichen Missbrauchsgefahren, wenn eine autoritär-populistische Regierung im Amt ist, befasst sich ein weiterer Teil von Steinbeis‘ Buch. Die Handlungsspielräume einer autoritär-populistischen Regierung reichen von der Einsetzung und Beförderung AfD-treuer Richter bzw. Gerichtspräsidentinnen bis hin zur Verbeamtung von AfD-Funktionären als politische Beamte auf hohen Ministeriumsposten. Durch letztere Maßnahme könne, so der Autor, insbesondere der Vollzug von Bundesgesetzen auf Landesebene sabotiert werden.
Für am wahrscheinlichsten und daher kurzfristig auch am gefährlichsten hält Steinbeis allerdings das Szenario der bereits erwähnten Sperrminorität, auch wenn es nicht zu einer Regierungsbeteiligung kommt: "Die Thüringer AfD hat es bereits zum offiziellen Wahlziel erklärt, die 33%-Hürde zu überspringen. Für eine Menge relevanter Entscheidungen ist eine 2/3-Mehrheit im Thüringer Landtag erforderlich".
Das gilt laut Steinbeis gerade auch für die Justiz. "Durch Ausnutzen einer Sperrminorität könnte die AfD zum Beispiel die Arbeit des Richterwahlausschusses behindern, dessen Mitglieder mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden müssen", erklärt der Autor. Der Richterwahlausschuss muss immer zustimmen, wenn Richterinnen und Richter auf Lebenszeit berufen werden. "Wenn der Ausschuss seine Arbeit nicht aufnehmen kann, können ganz viele Stellen in der Justiz nicht nachbesetzt werden. Und das in einer Situation, in der eine gigantische Pensionierungswelle auf die Justiz zurollt."
Die Kehrseite von Gesetzes- und Verfassungsänderungen
Steinbeis stellt als zentrales Problem dar, dass die demokratiegefährdenden Vorhaben einer autoritär-populistischen Landesregierung, aber auch deren missbräuchliches Verhalten als parlamentarische Opposition von der Verfassung gedeckt sind. Viele Vorgänge in Legislative, Exekutive und Judikative beruhten auf losen Konventionen, die nie in der Verfassung oder einfachgesetzlich festgeschrieben wurden. Und während die meisten Beteiligten die Einhaltung dieser Konventionen für selbstverständlich halten, würden diese von den autoritär-populistischen Kräften häufig ohne Zögern gebrochen.
Der Autor hält es für sinnvoll, die Verfassung gegen einen etwaigen Missbrauch zu immunisieren und dadurch institutionell weniger verwundbar zu machen. Doch Steinbeis sieht auch Risiken. Er rät, darauf zu achten, den Populisten nicht mit ebenfalls autoritären und repressiven Mitteln der wehrhaften Demokratie zu sehr in die Hände zu spielen.
Der Jurist empfiehlt, den Nutzen von Gesetzes- und Verfassungsänderungen zum Schutze der Demokratie stets ins Verhältnis zu ihrem Preis zu setzen. Seiner Ansicht nach kann ein Ausschluss plebiszitärer Volksbefragungen gerechtfertigt werden, da "der Preis der Maßnahme in angemessenem Verhältnis stünde zu dem Plus an Resilienz für die Demokratie". Das parlamentarische Fragerecht einzuschränken, dessen sich die AfD häufig in Massen bediene, um Regierungshandeln zu behindern, sieht er allerdings als unverhältnismäßig an.
Keine einfache Lösung
Knapp 40 Seiten widmet Steinbeis gegen Ende seines Buchs den Lösungen, die er mit dem Thüringen-Projekt-Team erarbeitet hat. Sollte eine autoritär-populistische Landesregierung künftig Bundesgesetze nicht rechtmäßig vollziehen, kann die Bundesregierung Beauftragte an die obersten Landesbehörden schicken, die deren Arbeit untersuchen. Kommen die Beauftragten zum Ergebnis, dass Bundesgesetze rechtswidrig vollzogen werden, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats zum sogenannten Bundeszwang greifen. Dieses Instrument gibt der Bundesregierung das Recht, den Vollzug eines Bundesgesetzes durch ein Bundesland zwangsweise durchzusetzen.
Das Problem: "Hier betritt man völlig unkartiertes Gelände. Von diesem Fall in Art. 37 GG wurde in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie Gebrauch gemacht", schreibt Steinbeis. Wenn ein Land wie Thüringen beim rechtswidrigen Vollzug der Bundesgesetze sogar Gerichtsurteile bis hin zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts missachten sollte, ist für ihn dennoch klar, dass die Bundesregierung einschreiten müsste. Wird in einem Bundesland das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit so eklatant verletzt, "kann die Bundesregierung nicht einfach politisches Appeasement betreiben und sich in die Büsche schlagen (…)", formuliert er kämpferisch.
Allerdings seien Verfassungsänderungen allein auch kein Allheilmittel. Der Verfassungsmissbrauch durch autoritär-populistische Kräfte lasse sich nie ganz ausschließen. Man könne sich allerdings auf ihn vorbereiten, nicht nur die "Amts-, Mandats- und FunktionsträgerInnen", sondern auch die Zivilgesellschaft. Und zwar durch Wissensaneignung, Diskussionen, jegliche zivilgesellschaftliche Beteiligung und vor allem auf der Straße durch Demonstrationen, heißt es im letzten Kapitel des Werks.
"Die verwundbare Demokratie" lohnt sich
Im Frühjahr 2024 übermittelte das Team dem Erfurter Landtag ein Policy Paper mit Handlungsempfehlungen, um die rechtsstaatliche Resilienz in Thüringen mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen zu stärken. Zu den vorgeschlagenen Gesetzes- und Verfassungsänderungen kam es daraufhin nicht.
Von Ernüchterung könne allerdings keine Rede sein, sagt Maximilian Steinbeis. Was die Resonanz und den Impact des Projekts angeht, sei er sehr glücklich. "Wir haben uns nie den Illusionen hingegeben, dass es super einfach werden würde, Gesetzes- und Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen. Auf die Themen und Lösungsmöglichkeiten hingewiesen zu haben, bleibt trotzdem über die Wahl hinaus wichtig und wertvoll. Auch auf Bundesebene hat sich ja durch die Einigung von Ampelkoalition und Unionsfraktion auf das Papier zur "Resilienz des Bundesverfassungsgerichts" gezeigt, dass es sich lohnt, sich mit entsprechenden Szenarien auseinanderzusetzen und Schlussfolgerungen zu ziehen."
Es lohnt sich auch, "Die verwundbare Demokratie" zu lesen. Trotz der Komplexität der Themen stellt Steinbeis Szenarien und Lösungsstrategien verständlich und klar dar. Das Buch enthält einen riesigen Koffer an Wissen, um sich auf den erstarkenden politischen Einfluss autoritär-populistischer Kräfte vorzubereiten. Es ist als Lektüre nicht nur Juristinnen und Juristen ans Herz zu legen. Bei der Stärkung der rechtsstaatlichen Resilienz ist letztlich jeder gefragt.
Der Autor Manuel Leidinger ist Volljurist, Mediator und freier Journalist in Köln.