Der Arbeitsalltag in der Großkanzlei ist heftig, das ist bekannt. Lange Arbeitszeiten, viel Druck – teils strenge Hierarchien und feste Strukturen. Das gilt besonders, wenn man noch ganz am Anfang seiner Karriere steht, ganz unten am Fuße eines langen Aufstiegs, der sich Partnertrack nennt. Was also tun? Stiefel schnüren, die Partnerschaft anpeilen und Abmarsch? Das bedeutet in der Regel ein Investment von mindestens fünf Jahren, in denen man nur wenig Mitbestimmungsrecht und kaum Freiheiten hat. Wer würde da nicht gerne abkürzen?
Eine Möglichkeit dazu bietet eine sogenannte Spin-off-Gründung, also eine Ausgründung aus einer größeren Kanzlei. Dabei entscheiden sich oft vier oder fünf Anwältinnen und Anwälte gemeinsam dazu, etwas Eigenes aufzuziehen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wer gründet, ist von jetzt auf gleich sein eigener Chef und kann trotzdem auf alles zurückgreifen, was er oder sie in der Großkanzlei gelernt hat. Statt bei null anzufangen, wagen sie gemeinsam den nächsten Schritt: bestehende Mandantenkontakte, Infrastruktur und Branchenwissen kombiniert mit der Freiheit, die die Selbstständigkeit bringt, und der Sicherheit, in einem Team von Gleichgesinnten zu agieren. Für angestellte Anwältinnen und Anwälte mit unternehmerischen Ambitionen ist das verlockend – und zunehmend auch schon für Berufsanfänger.
Liane Allmann berät seit über 20 Jahren Anwältinnen und Anwälte und hat schon viele Spin-offs begleitet. Sie erkennt darin einen Trend: "Ich würde sagen, es ist ein neues Phänomen, dass junge Anwältinnen und Anwälte schon nach wenigen Jahren Berufserfahrung ausgründen", sagt sie. Als seniorer Partner mit viel Erfahrung noch einmal eine eigene Kanzlei zu gründen, sei die eine Sache. Zunehmend entschieden sich aber auch schon Associates für die Ausgründung. "Das sind häufig junge Menschen, die einen digitalen Fokus haben. Die neue Spezialisierungsmöglichkeiten sehen, KI einsetzen wollen und darüber nachdenken, Legal-Tech-Tools zu implementieren."
Oft sei gerade bei den Jungen eine Frustration zu spüren. In ihren traditionellen Kanzleien ließen Innovationen auf sich warten. Die eingefahrenen Strukturen wandelten sich zu langsam, Digitalisierung, Work-Life-Balance und eine moderne Arbeitskultur vermissten gerade die Neueinsteiger. Dabei hätten Associates wenig Handhabe und den Partnerinnen und Partnern fehle oft das Verständnis. "Ich erlebe es häufig, dass Anwälte aus Ärger über eine gewisse Blockadehaltung in ihrer Kanzlei gehen."
"Ich hatte nichts zu verlieren"
Dabei birgt die Selbstständigkeit in jungen Jahren ein größeres Risiko: Man hat weniger Erfahrung, weniger Rücklagen, um finanzielle Engpässe zu überbrücken und ein kleineres Netzwerk. Viele Mandantinnen und Mandanten bevorzugen zudem senioren Rechtsrat oder große Kanzleinamen. Wieso also als Associate ausgründen?
"Für mich war es eigentlich der perfekte Zeitpunkt, denn ich hatte nicht viel zu verlieren", sagt Ada Guliyeva. Gemeinsam mit vier Noerr-Kolleginnen und -Kollegen hat sie 2023 die Hamburger Kanzlei Frontwing Litigation gegründet. Sie war damals erst 29 Jahre alt – von ihren Kollegen keiner älter als 35. Der Schritt in die Selbstständigkeit ginge natürlich auch mit einer großen finanziellen Unsicherheit einher, so Guliyeva. Doch gerade wegen ihres jungen Alters habe sie dem Großkanzleigehalt nicht nachgetrauert. "Ich habe keine Kinder, kein Haus, das ich abzahlen muss. Noch zwei Jahre zuvor war ich Studentin gewesen und hatte auf 20 Quadratmetern gelebt. Ich dachte: Was soll schon großartig passieren?"
Wichtig ist ein guter Mix
Wichtiger als Alter oder Berufserfahrung sei bei einer Ausgründung das richtige Team, findet auch Dr. Christian Hillebrand von Orbit. 2021 verließ er zusammen mit vier Kollegen Poellath, um in Berlin die erste auf Fondsrecht spezialisierte Boutique zu gründen. Laut Hillebrand kommt es auf den richtigen Mix an. "Es ist sehr wichtig, dass man im Team komplementär zueinander ist und unterschiedliche Fähigkeiten und Sichtweisen einbringt. Wir verstehen uns alle sehr gut, aber wir sind sehr unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Stärken. Dadurch ergänzen wir uns hervorragend."
Zum Ausgründen haben Hillebrand und seine Partner auch die Mandantinnen und Mandanten inspiriert: "Wir beraten zu Fonds-Strukturen und in diesem Bereich sehen wir sehr viele erfolgreiche Gründer. Das hat uns inspiriert. Letztlich ist eine Anwaltskanzlei ein Unternehmen, dass man aufbauen und führen muss." Es sei auch dieser ausgeprägte Unternehmergeist gewesen, der ihn und seine Partner verbunden habe. "Die Idee, mich irgendwann selbstständig zu machen, hatte ich schon im zweiten Berufsjahr. Und dieser Drang, selbst etwas aufzubauen, war bei uns allen stark."
Aus Scherzen in der Mittagspause und Was-wäre-wenn?-Spielchen bei einem Bier nach Feierabend entwickelte sich dann schließlich ein ernsthafter Plan. "Irgendwann haben wir uns an einem Freitagabend zusammen hingesetzt und ein bisschen ernsthafter über das Thema gesprochen", erzählt Guliyeva. "Übers Wochenende sollte sich jeder die Idee durch den Kopf gehen lassen und was soll ich sagen: Am Montag war es entschieden!"
Im Guten auseinandergehen
Für den Arbeitgeber ist eine Ausgründung derweil oft hart. Selbst eine Großkanzlei trifft es da, wo es wehtut, wenn vier, fünf oder sechs Anwältinnen und Anwälte gleichzeitig gehen – in der Regel, um anderswo ein Konkurrenzgeschäft aufzuziehen. Das gilt besonders für Associates oder junge Counsel, in die die Kanzlei zwar schon investiert hat, die ihr im Gegenzug aber noch nicht viel eingebracht haben. Ihre Stellen in Zeiten des Fachkräftemangels neu zu besetzen, gestaltet sich zunehmend schwieriger.
Ist der Entschluss, eigene Weg zu gehen, einmal gefasst, steht jungen Gründerinnen und Gründern also ein Gespräch der unangenehmen Sorte bevor. "Es ist ein bisschen wie Schlussmachen", erinnert sich Hillebrand. "Es liegt nicht an dir, sondern an mir! Wie in einem schlechten Film." Er und seine Partner haben das Gespräch lange geplant. "Wir wollten das rechtlich sauber spielen und fair mit unserem Arbeitgeber umgehen. Das Fondsrecht ist ein kleiner Rechtsbereich und man wird auch in Zukunft immer miteinander zu tun haben. Aber auch aufgrund der langjährigen persönlichen Beziehungen konnten und wollten wir ohne Reibung auseinanderzugehen und freuen uns, dass wir weiterhin eine gute Beziehung zu unseren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen haben."
Doch wie schafft man es, keine verbrannte Erde zu hinterlassen? Allmann rät zu guter Vorbereitung, notfalls auch mit Training. "Man kann nicht immer kalkulieren, wie die Kanzlei reagieren wird, aber man kann sich selbst souverän verhalten und so weniger angreifbar machen." Die eigenen Argumente klar und ohne Schuldzuweisung formulieren zu können, sei das A und O. "Dazu gehört auch die emotionale Vorbereitung. Die eigene Unzufriedenheit oder frühere Verletzungen dürfen nicht durchbrechen. Es nützt niemandem, wenn man in dem Gespräch von Emotionen übermannt wird und es zu Kränkungen kommt. Ich würde dazu raten, das Szenario vorher mehrmals durchzugehen, vielleicht sogar in einem Rollenspiel zu üben."
Lieber früher als später kommunizieren
Guliyeva hält es auch für wichtig, das Gespräch nicht hinauszuzögern. "Wenn der Entschluss feststeht, gibt es keinen Grund mehr, zu warten. Es zeugt von gutem Willen, wenn man dem Arbeitgeber die Möglichkeit gibt, sich auf den Wechsel vorzubereiten und nicht schon mit der Kündigung in der Hand im Türrahmen steht." Die Planungsphase sei immer konspirativ, man stecke die Köpfe zusammen, heimliche Treffen in der Mittagspause, um Kanzleiräume zu besichtigen: "Das macht einen komischen Eindruck, wenn die Kollegen nicht wissen, worum es geht."
Allmann rät außerdem dazu, die Kommunikation mit der Mandantschaft und der Öffentlichkeit eng mit der ehemaligen Kanzlei abzustimmen. Das gebiete die Höflichkeit, wenn nicht sogar das Standesrecht oder Wettbewerbsklauseln. "Wenn man vorhat, an die Öffentlichkeit zu gehen, kann man der Kanzlei zum Beispiel einen Entwurf vorlegen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme geben."
"Wir haben einfach versucht, die Kommunikation so transparent und undramatisch wie möglich zu machen", resümiert Hillebrand. "Für den Arbeitgeber ist es nicht leicht, die nächste Partner-Generation ziehen zu lassen."
Mut zahlt sich aus
Auf persönlicher Ebene sei die Gruppe aber auf Verständnis gestoßen. Unternehmergeist und der Drang, etwas Eigenes aufzubauen sind gerade den Partnern nicht fremd. Privat hätten die Gründer viele Glückwünsche und Tipps bekommen. Nützliche Hinweise, gerade für den Start, denn ein eigenes Unternehmen aufzubauen ist keine leichte Übung.
"Man unterschätzt einfach alles", sagt Guliyeva. "Der bürokratische Aufwand ist doch enorm, besonders, weil man auch das anwaltliche Berufsrecht beachten muss." Von Steuern über Personal bis hin zum operativen Geschäft: Gerade am Anfang bedeutet das unternehmerische Dasein, sich um alles selbst zu kümmern. "Nach der Gründung mussten wir uns auch mit so absurden Dingen beschäftigen, wie: Welche Seife stellen wir ins Bad?", erinnert sich Hillebrand.
Nach einem bzw. drei Jahren ziehen Guliyeva und Hillebrand aber positive Bilanz. "Das war im beruflichen Kontext die beste Entscheidung meines Lebens", sagt Hillebrand. "Die unternehmerische Freiheit, die man selbst als Partner in der Großkanzlei nicht gehabt hätte, genießen wir am meisten. Das zu tun, was einem Spaß macht, aber in einem Set-Up, das man selbst aufgebaut hat, bringt unheimlich viel Befriedigung. Wenn man irgendwann zurückschaut, was man im Leben geschaffen hat, wird man darauf mit großer Freude und Stolz zurückblicken" "Jedem, der mit dem Gedanken spielt, würde ich wirklich empfehlen, sich zu trauen", meint auch Guliyeva. "Ich hatte das lehrreichste Jahr meines Lebens. Beruflich, aber auch persönlich, hat mir das so viel gegeben."