SG Gießen erkennt Merkzeichen "aG" für außergewöhnliche Gehbehinderung bei Autismus zu

Die Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung (aG) sind in § 229 Abs. 3 SGB IX geregelt. Das Sozialgericht Gießen hat dieses Merkzeichen jetzt einem Kläger mit schwerstgradig ausgeprägtem Autismus-Syndrom zuerkannt. Der Kläger gehöre zwar nicht zu dem im Gesetz beschriebenen Personenkreis, wenn lediglich auf sein physisch mögliches Gehen abgestellt werde. Im Hinblick auf seine mentale Beeinträchtigung sei er diesem Personenkreis jedoch gleichzustellen (Urteil vom 30.01.2020, Az.: S 16 SB 110/17, nicht rechtskräftig).

Behörde lehnte Feststellung des Merkzeichens ab

Der 2013 geborene Kläger muss aufgrund seiner Behinderung durchgehend beaufsichtigt werden, da er aufgrund seines Autismus-Syndroms nicht in der Lage ist, Handlungen zu planen und allein durchzuführen. Er kann sich allein weder orientieren noch Gefahren einschätzen. Eine erwachsene Person allein kann den Kläger trotz voller Umklammerung des Oberkörpers praktisch nicht festhalten. Der Beklagte lehnte mit den angefochtenen Bescheiden vom 24.01.2017 und 24.03.2017 die Feststellung des Merkzeichens aG ab.

Voraussetzung für Merkzeichen aG

Die daraufhin erhobene Klage hatte Erfolg. Das Merkzeichen aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung eines schwerbehinderten Menschen setzt laut SG voraus, dass die Einschränkung der Gehfähigkeit dauerhaft besteht. Bei einer Hirnleistungsschwäche (hier: Autismus und Entwicklungsverzögerung) könne von einer verminderten Gehfähigkeit als Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens aG dann ausgegangen werden, wenn der Betroffene aufgrund der Auswirkungen seiner Erkrankung auch mit einer verantwortungsbewussten Begleitperson nicht mehr geführt werden könne, sondern – wie hier – eine Beförderung mit einem Reha-Buggy erforderlich sei.

Kein selbstständig zielgerichtetes Laufen

Nach umfassenden Ermittlungen ist das SG eigenen Angaben zufolge zu dem Schluss gekommen, dass der Kläger aufgrund seines Autismus-Syndroms nicht in der Lage ist, eine auch nur geringfügige Strecke selbstständig zielgerichtet zurückzulegen. Dies gelte selbst dann, wenn ihm eine Begleitperson zur Seite stehe. Bei der ausgeprägten mentalen Behinderung des Klägers sei jederzeit damit zu rechnen, dass er sich von der jeweiligen Begleitperson losreiße, von dieser weglaufe oder in impulsiven/aggressiven Ausbrüchen gegen die Begleitperson oder Dritte losgehe.

SG Gießen, Urteil vom 30.01.2020 - S 16 SB 110/17

Redaktion beck-aktuell, 11. Februar 2020.

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