SGB-II-Leistungen für Bulgarin nach Aufgabe selbstständiger Prostitution

Das Sozialgericht Berlin hat einer Bulgarin, die ihre selbstständige Arbeit als Prostituierte in Berlin aufgegeben hatte, SGB-II-Leistungen zugesprochen. Laut Gericht besteht ihr Aufenthaltsrecht als Selbstständige und damit auch der Zugang zu SGB-II-Leistungen fort, weil die Ausübung der Prostitution objektiv unzumutbar und ihre Aufgabe daher nicht freiwillig sei.

Bulgarin beendete Prostitution und begehrte SGB-II-Leistungen

Die bulgarische Klägerin kam 2014 nach Berlin und war dort steuerlich gemeldet als selbstständige Prostituierte auf dem Straßenstrich tätig. Als sie 2019 mit ihrem zweiten Kind schwanger war, gab sie die Prostitution auf, weil sie diese für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Bis September 2020 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom beklagten Jobcenter. Eine Weiterbewilligung lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin habe nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Es fehle insbesondere an einer unfreiwilligen Arbeitsaufgabe, da sie sich bewusst und freiwillig entschieden habe, sich beruflich neu zu orientieren. Dagegen klagte die Bulgarin beim SG.

SG: Aufenthaltsrecht als Selbstständige besteht mangels freiwilliger Aufgabe fort

Die Klage hatte Erfolg. Das SG hat das Jobcenter dazu verurteilt, der Frau und ihren beiden Kindern SGB-II-Leistungen zu gewähren. Als EU-Bürgerin habe sie durch ihre selbstständige Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben. Dieses habe auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestanden, da diese unfreiwillig erfolgt sei. Es könne objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den von ihr in der mündlichen Verhandlung geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.

Ausübung der Prostitution generell unzumutbare Tätigkeit

Doch auch generell sei die willentliche Beendigung der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folge, dass Prostitution als unzumutbar anzusehen sei und von der betroffenen Person nicht ausgeübt werden müsse, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Beende ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er die Tätigkeit als nicht zumutbar empfinde, beruhe die Aufgabe der Tätigkeit auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die er nicht zu vertreten habe.

Wegen Fortwirkung des Aufenthaltsrechts kein Leistungsausschluss

Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt habe. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen könne, werde nicht deshalb zumutbar, weil die Person sie zeitweise ertragen habe. Wegen des fortwirkenden Aufenthaltsrechts aus ihrer ehemaligen selbstständigen Tätigkeit habe die Klägerin nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Sie und ihre Kinder seien deshalb auch nicht von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen.

SG Berlin, Urteil vom 15.06.2022 - S 134 AS 8396/20

Redaktion beck-aktuell, 19. Juli 2022.