Jobcenter muss Einsicht in Anzeige mit beleidigendem Inhalt gewähren

Das Jobcenter muss einer Leistungsbezieherin vollständige Einsicht in ein Anzeigeschreiben gewähren, wenn dieses falsche beziehungsweise nicht erweisliche Tatsachen und Pöbeleien enthält. In einem solchen Fall trete der Schutz des Behördeninformanten hinter das Informationsinteresse der Betroffenen zurück, so das Sozialgericht Berlin. Im konkreten Fall hatte das Jobcenter der Leistungsbezieherin zwar eine Kopie der Anzeige herausgegeben, die Unterschrift darunter aber geschwärzt.

Leistungsbezieherin des "Sozialbetrugs" beschuldigt

Im Herbst 2017 ging beim beklagten Berliner Jobcenter ein am Computer gefertigtes Schreiben eines unbekannten Behördeninformanten ein. Unter der Überschrift "Sozialbetrug!" behauptete der Absender, dass der Vater der Klägerin vor einiger Zeit gestorben sei. Die Klägerin fahre jetzt ein fast neues Auto aus der Erbmasse, obwohl sie Sozialhilfe beziehungsweise "Hartz IV" beziehe. Sie benötige das Fahrzeug, um ihrer Schwarzarbeit bei diversen Putzstellen nachzugehen. Auch ein Häuschen müsse der Vater hinterlassen haben. Es sei nicht mehr nachvollziehbar, wie diese Frau als Sozialschmarotzerin alles vom Staat bezahlt bekomme und wohl jede Arbeitsstelle umgehe. Es werde gebeten, hier einmal eine genaue Überprüfung einzuleiten. Das Schreiben enthielt keinen Absender. Es war unterzeichnet mit "X Y" und einer nicht lesbaren handgeschriebenen Unterschrift.

Anschuldigen erwiesen sich als falsch

Diese Anzeige nahm der Beklagte im Februar 2019 zum Anlass, um vor der Weiterbewilligung der Grundsicherung für Arbeitsuchende Ermittlungen anzustellen. Im Ergebnis stellte sich heraus, dass der Vater der Klägerin – einer 1963 geborenen Berlinerin – zwar tatsächlich gestorben war, sie jedoch nichts geerbt hatte. Ein Auto des Vaters hatte sie schon zu dessen Lebzeiten nutzen dürfen. Letztendlich bewilligte der Beklagte deshalb die begehrten Leistungen. Auf Bitten der Klägerin gewährte der Beklagte Einsicht in die Verwaltungsakte, schwärzte jedoch die Unterschrift unter dem Anzeigeschreiben. Die Klägerin wandte ein, dass sie gegen den Informanten rechtlich vorgehen wolle. Für sie sei dieser anhand der Unterschrift möglicherweise zu erkennen. Ihren Antrag auf ungeschwärzte Akteneinsicht wies der Beklagte mit der Begründung ab, dass in dem Schreiben leistungsrechtlich erhebliche Tatsachen angezeigt worden seien. Deshalb überwögen die berechtigten Interessen des Informanten an seiner Geheimhaltung. So werde sichergestellt, dass vertrauliche Informationen an die öffentliche Verwaltung gegeben werden könnten, ohne dass ein Informant die Offenlegung seiner Identität zu befürchten habe.

Interesse des Informanten mit dem der Geschädigten abzuwägen

Das SG Berlin hat der hiergegen erhobenen Klage nach mündlicher Verhandlung stattgegeben und den Beklagten zur Vorlage des ungeschwärzten Schreibens verurteilt. Zwar sei das Jobcenter nicht verpflichtet, Akteneinsicht zu gewähren, wenn Vorgänge wegen der berechtigten Interessen von Personen geheim gehalten werden müssen. Auch die Identität eines Behördeninformanten sei grundsätzlich geschützt. Das Interesse des betroffenen Leistungsempfängers an der Identität eines Informanten überwiege dessen Geheimhaltungsinteresse jedoch dann, wenn anzunehmen sei, dass der Informant wider besseres Wissen und absichtlich rufschädigend gehandelt hat oder leichtfertig falsche Informationen übermittelt hat. Für die vorzunehmende Interessenabwägung und die Einschätzung der Motivation des Informanten sei im vorliegenden Fall zu bedenken, dass er bewusst selbst den Schutz der Anonymität gewählt habe. Sein Schreiben enthalte zwar einige Informationen, die objektiv gesehen für die Leistungsverwaltung von Relevanz seien.

Informationsinteresse der Leistungsbezieherin überwiegt

Überwiegend stehe jedoch nicht die sachliche Information im Vordergrund. Vielmehr würden falsche und nicht erweisliche Tatsachen und Pöbeleien verbreitet. Die Bezeichnung der Klägerin als Sozialschmarotzerin sei beleidigend. Die Unterstellung, sie arbeite schwarz, sei rufschädigend. Dem Informanten sei es insoweit nicht mehr um die sachdienliche Benachrichtigung der zuständigen Behörde gegangen, sondern um die Verächtlichmachung der Klägerin. Dies folge insbesondere daraus, dass seine diesbezüglichen Angaben keiner Überprüfung zugänglich gewesen seien. Er habe keine konkreten Arbeitgeber, Einsatzorte und Arbeitszeiten für den Vorwurf der Schwarzarbeit genannt und auch keine Kontaktdaten für Nachfragen hinterlassen. Seine Angaben könnten daher nur als leichtfertige Behauptungen gewertet werden, die in der Absicht gemacht worden seien, die Klägerin zu schädigen. Folglich überwiege das Informationsinteresse der Klägerin. Es sei nicht auszuschließen, dass sie – anders als Außenstehende – einen Bezug zwischen der unleserlichen Unterschrift und dem Informanten herstellen könne.

SG Berlin, Urteil vom 08.09.2021 - S 103 AS 4461/20

Redaktion beck-aktuell, 20. Dezember 2021.