Im Bereich des Schadensersatzrechts zeigt der internationale Entwicklungstrend seit vielen Jahren nur in eine Richtung, nämlich dass immaterielle Beeinträchtigungen zunehmend auch als ersatzfähige Schäden anerkannt werden. Das deutsche Recht ist an dieser Stelle traditionell besonders zurückhaltend. Während der Beratungen zum BGB herrschte die Meinung vor, es sei nachgerade unanständig, sich seelisches Leid in Geld "abkaufen" zu lassen und dass man deshalb am besten gar keinen Geldersatz für immaterielle Beeinträchtigungen gewähren dürfe.
Diese strikte Haltung, die aus der Inkommensurabilität von Leid und Geld den Schluss zieht, den Schadensersatz auf null zu setzen, war bei Körper- und Gesundheitsverletzungen von Anfang an nicht durchzuhalten, hier gibt es seit jeher das Schmerzensgeld. In der Aufzählung der Rechtsgüter, deren Verletzung einen Schmerzensgeldanspruch auszulösen vermag, fehlt aber das Rechtsgut Leben. Wurde durch eine unerlaubte Handlung ein Mensch getötet, konnten die Hinterbliebenen nur dann Schmerzensgeld für ihr seelisches Leid verlangen, wenn sie ausnahmsweise einen sogenannten Schockschaden erlitten hatten. Dieser setzt voraus, dass die psychischen Beeinträchtigungen Krankheitswert erreichen, erfasst also nicht den "normalen" Trauerschmerz.
Hinterbliebenengeld als Folge des Germanwings-Absturzes
In Europa geriet dieser restriktive Standpunkt immer mehr unter Druck. Im Anschluss an den vom Piloten forcierten Absturz einer Germanwings-Maschine in den französischen Alpen im Jahr 2015, bei dem 150 Menschen ums Leben kamen, wurde auch in Deutschland im Jahr 2017 ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld eingeführt. Hinterbliebene, die zu dem oder der Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis standen, können seither für das ihnen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen (§ 844 Abs. 3 BGB). Dabei wird die Existenz eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses bei Ehegatten, Lebenspartnern, Eltern und Kindern des oder der Getöteten vermutet. Nach sechs Jahren ist das Hinterbliebenengeld Ende 2023 von der Bundesregierung evaluiert worden, mit positivem Ergebnis: Das Gesetz, das durch die Rechtsprechung konturiert und konkretisiert worden ist, stößt auf positive Resonanz.
Tatsächlich hat der BGH in grundlegenden Entscheidungen wichtige Leitplanken gesetzt. Der VI. Zivilsenat hat das Hinterbliebenengeld als Sonderfall des Schmerzensgeldes profiliert für psychische Beeinträchtigungen, die unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung bleiben. Es geht also um Schadensersatz für Personen, die nicht unmittelbar, aber doch mittelbar durch den Tod eines geliebten Menschen betroffen sind. Die Eingliederung des Hinterbliebenengeldes in die allgemeine Schmerzensgelddogmatik entspricht dessen Doppelfunktion: Ausgleich und Genugtuung. Deshalb orientiert sich seine Höhe an zwei Maßstäben, nämlich der Intensität der erlittenen Beeinträchtigung und der Schwere des Verschuldens durch den Schädiger bzw. die Schädigerin.
Deutsches Recht kennt keinen Strafschadensersatz
Die Höhe der Entschädigung vom Verschuldensgrad abhängig zu machen ist jedoch eine schwer zu rechtfertigende Anomalie: Während Sühne und Bestrafung als Leitsterne der Schadensbemessung normalerweise scharf zurückgewiesen werden und Strafschadensersatz sogar gegen den deutschen ordre public verstoßen soll, gilt bei immateriellen Beeinträchtigungen das glatte Gegenteil: Die Schwere des Verschuldens führt zur Erhöhung des Ersatzbetrags. Das ist beim Hinterbliebenengeld genauso kritikwürdig wie beim Schmerzensgeld. Sühne und Bestrafung sind keine sinnvollen Ziele, wenn die Schädigerinnen und Schädiger in der Regel haftpflichtversichert sind, sodass die Genugtuung zu Lasten einer Versichertengemeinschaft erfolgt, wie es bei Straßenverkehrsunfällen wegen der bestehenden Versicherungspflicht durchweg der Fall ist.
Nach der Rechtsprechung zum Schmerzens- wie zum Hinterbliebenengeld ist der Ersatzbetrag vom Gericht in einem einzigen Schritt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzusetzen. Im Interesse der Transparenz und Rationalisierung der Bemessung wäre eine Aufspaltung in zwei Stagen zu wünschen. So könnte das Gericht zunächst den unter dem Ausgleichsgesichtspunkt geschuldeten Betrag festsetzen und diesen dann bei besonderer Schwere des Verschuldens um einen "Zuschlag"" erhöhen.
In Italien teils über 300.000 Euro, in Deutschland im Schnitt 10.000 Euro
Bei der Suche nach einem angemessenen Entschädigungsbetrag ist es zudem entscheidend, das verletzte Interesse richtig zu bestimmen. Das Hinterbliebenengeld soll nicht den Verlust menschlichen Lebens kompensieren, was zu exorbitant hohen Summen führen müsste, sondern hat allein das Leid der Angehörigen im Blick, das allerdings unterhalb der Schwelle einer psychischen Gesundheitsverletzung bleibt, die einen Anspruch auf Schockschadensersatz auslöst. Die Entschädigungsoktave für diesen "Trauerschmerz" ist schwer zu bestimmen und die Unterschiede zwischen den europäischen Rechtsordnungen sind frappant. Während sich in England und Wales sämtliche Hinterbliebene den gesetzlich fixierten Betrag von 15.120 Pfund teilen müssen, erhalten in Bulgarien die Eltern beim Verlust eines Kindes zusammen über 120.000 Euro und Geschädigte in Italien Summen von bis zu 332.000 Euro.
Die Praxis der deutschen Gerichte ist eher am unteren Ende dieser Spanne angesiedelt. Als Orientierungspunkt für das Hinterbliebenengeld dient der in der Gesetzesbegründung als Durchschnitt genannte Betrag von 10.000 Euro. Unter Berücksichtigung der seit 2017 erlittenen Geldentwertung entspricht dies heutigen ca. 12.100 Euro. Die Praxis in den Nachbarländern ist zwar weder bindend noch als solche ein Argument, wohl aber ein Indiz dafür, wie vernünftige Menschen in anderen Jurisdiktionen den Verlust einer geliebten Person monetär einordnen. Dies legt es nahe, dass sich die deutschen Gerichte beim Hinterbliebenengeld etwas weniger zugeknöpft zeigen sollten als bisher.
Wo Hinterbliebenengeld aufhört, beginnt der Schockschadensersatz
Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld und der Schmerzensgeldanspruch Angehöriger wegen Verletzung der eigenen (psychischen) Gesundheit sind klar voneinander zu scheiden. Zwar antworten beide Ansprüche auf kategorial identisches Leid, doch die Intensität der Beeinträchtigungen variiert. Das Hinterbliebenengeld reagiert auf den "normalen" Trauerschmerz, der Schockschadensersatz auf schwere Fälle, in denen es zu medizinisch diagnostizierbaren psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen, kommt. Zwischen beiden besteht ein Steigerungsverhältnis: Wo das Hinterbliebenengeld aufhört, fängt das Schmerzensgeld wegen schockbedingter Gesundheitsverletzung an. Ansprüche auf Hinterbliebenengeld und Schmerzensgeld wegen Schockschadens können deshalb nicht nebeneinander existieren, der Anspruch auf Schockschadensersatz konsumiert vielmehr das Hinterbliebenengeld. Selbständige Bedeutung behält der Schockschadensersatz hingegen in Fällen, in denen das Primäropfer "lediglich" schwer verletzt wurde, weil das Hinterbliebenengeld auf Tötungen begrenzt ist.
Zeitgleich mit der Konturierung des Hinterbliebenengelds hat der BGH für einen nahtlosen Übergang zwischen Hinterbliebenengeld und Schmerzensgeld wegen Schockschadens gesorgt, indem er die Anforderungen an Letzteren abgesenkt hat. Für das Schmerzensgeld wegen eigener Gesundheitsverletzung der Hinterbliebenen reicht es nunmehr aus, dass der Tod des oder der Angehörigen bei ihnen zu psychischen Beeinträchtigungen geführt hat, die Krankheitswert im medizinisch diagnostizierbaren Sinne erreichen. Das bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass diese über die "normalen" Reaktionen, die ein psychisch gesunder Mensch beim Verlust einer geliebten Person empfindet, hinausgehen müssen.
Der BGH das Hinterbliebenengeld somit in die bekannten Bahnen der Schmerzensgelddogmatik gelenkt und damit einerseits Rechtssicherheit geschaffen, aber auch die Probleme importiert, die den Immaterialschadensersatz im deutschen Recht kennzeichnen und aus der Genugtuungsfunktion resultieren. Sie ist es, die eine stärkere Rationalisierung und Standardisierung der Entschädigungsbeträge verhindert, wodurch die Prozessrisiken steigen und die Rechtsdurchsetzung behindert wird. Weniger Einzelfallgerechtigkeit wäre mehr gewesen.
Prof. Dr. Gerhard Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er referiert auf dem morgen beginnenden 63. Verkehrsgerichtstag in Goslar zum Thema "Hinterbliebenengeld und Schockschaden".