Scharfe Kritik an OVG Bautzen nach eskalierter "Querdenken"-Demo in Leipzig

Nach der Eskalation der "Querdenken"-Demonstration in Leipzig hagelt es scharfe Kritik am Oberverwaltungsgericht Bautzen, das die Veranstaltung gegen den Willen der Stadt unter Auflagen in der Innenstadt zugelassen hatte. So wirft Bundestags-Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) dem OVG Unverantwortlichkeit vor. Andere Stimmen sehen eher die Politik oder die Polizei in der Verantwortung.

Mindestens 20.000 Teilnehmer, überwiegend ohne Maske

Am 07.11.2020 hatten im Zentrum Leipzigs mindestens 20.000 Menschen gegen die Corona-Beschränkungen demonstriert. Die Initiative "Durchgezählt" schätzte die Gesamtzahl der Teilnehmer sogar auf 45.000. 90% der Teilnehmer trugen laut Polizei keine Masken. Wegen der massiven Verstöße gegen die Hygiene-Auflagen löste die Stadt Leipzig die Versammlung kurz vor 16.00 Uhr auf. Die Masse blieb aber und erzwang einen Gang über den symbolträchtigen Leipziger Ring, den Ort der Montagsdemonstrationen 1989. Es kam zu Gewalt und Angriffen auf die Presse.

Stadt wollte Demo an Stadtrand verlegen – OVG erlaubte Demo in Innenstadt

Die Stadt hatte damit gerechnet, dass die Demonstranten sich nicht an die Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus halten würden. Um das Infektionsrisiko gering zu halten, wollte sie die Veranstaltung auf einen großen Messe-Parkplatz an den Stadtrand verlegen. Das Verwaltungsgericht Leipzig hatte dies zunächst bestätigt. Das OVG Bautzen hatte die Demonstration in der Innenstadt dann aber am Samstagmorgen erlaubt, auf 16.000 Teilnehmer begrenzt. Die Begründung des OVG für die Zulassung steht noch aus.

Sächsischer Innenminister: OVG-Entscheidung unverständlich

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) nannte es "unverständlich, dass mitten in einer sich verschärfenden Corona-Pandemie eine Versammlung von über 16.000 Teilnehmern in der Innenstadt von Leipzig genehmigt werden kann". Veranstalter und Teilnehmer hätten schon vorher klar gemacht, dass sie keine Hygieneregeln einhalten wollten. Auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhart Jung (SPD) und er Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Georg Maier (SPD), kritisierten die Gerichtsentscheidung scharf. "Das wäre nicht nötig gewesen", sagte der Thüringer Minister der ARD.

Polizeigewerkschaft kritisiert OVG ebenfalls

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte Justiz und Behörden. "Anstatt über angebliches Polizeiversagen zu reden, sollte man die wahren Ursachen für die Eskalation benennen: Man hätte diese ganze Situation überhaupt nicht zulassen dürfen", sagte der sächsische Landesvorsitzende Hagen Husgen der "Augsburger Allgemeinen". "Dass das Oberverwaltungsgericht diese Demo so genehmigt hat, ist für mich völlig unverständlich. [...] Wir fühlen uns als Polizisten im Stich gelassen, wir sind mal wieder die Buhmänner", stellte Husgen fest. "Meine Kolleginnen und Kollegen sind richtig erzürnt darüber. Wenn wir deeskalieren, heißt es, die Polizei habe zu lax reagiert. Wenn wir härter durchgreifen, ist sofort von Polizeigewalt die Rede." Das Versammlungsrecht sei ein hohes Gut, betonte der GdP-Landeschef. "Aber was ist denn mit der Gesundheit der Beamten, die sich bei einer solchen Veranstaltung einem hohen Risiko aussetzen, sich zu infizieren? Auch ein Oberverwaltungsgericht muss sich mal die Frage stellen: Was beschwöre ich herauf, wenn ich so etwas zulasse?"

Bundestags-Unionsfraktionsvize: Demo-Zulassung unverantwortlich

Scharfe Kritik an der Entscheidung des OVG kommt aus der Unionsfraktion im Bundestag. Es sei unverantwortlich, eine solche Versammlung mit mehr als 16.000 Menschen in Zeiten einer Pandemie in der Leipziger Innenstadt zuzulassen, sagte Fraktionsvize Thorsten Frei (CDU) der "Rheinischen Post" (Ausgabe vom 09.11.2020). "Ich kann niemandem erklären, warum sich in Deutschland nur zwei Hausstände treffen und zugleich 16.000 Personen demonstrieren dürfen, bei denen schon im Vorfeld ganz klar und eindeutig ist, dass sie sich nicht an die Auflagen des Infektionsschutzes halten werden", betonte er. Mit solchen Urteilen werde "die Akzeptanz der Maßnahmen eher untergraben als gestärkt".

Esken: Gesetzliches Handeln erforderlich

Andere halten es für zu kurz gegriffen, die Schuld allein dem OVG zuzuschieben. "Wenn wir daran was ändern wollen, dass solche Demonstrationen in der Größe möglich sind und auch unter diesen Umständen, dann müssen wir legislativ tätig werden", sagte SPD-Chefin Saskia Esken am 09.11.2020 dem SWR. "Wir werden die Nachjustierung des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag nicht nur beraten, sondern auch beschließen", sagte sie. Tatenlos zuzuschauen sei eine innenpolitische Bankrotterklärung. Esken richtete auch Kritik an Sachsens Innenminister Roland Wöller und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU): "Die haben die PolizistInnen tatsächlich sehenden Auges und völlig unzureichend ausgestattet auch in diese Situation laufen lassen und ich finde das unverantwortlich."

SPD-Landtagsfraktion hinterfragt Einsatzkonzept von Stadt und Polizei

Auch der Vorsitzende der sächsischen SPD-Landtagsfraktion, Dirk Panter, sieht nicht nur das OVG Bautzen in der Verantwortung. "Ich bin erstmal fassungslos über das, was in Leipzig passiert ist", sagte Panter am Montag im MDR. "Aber das allein auf das Oberverwaltungsgericht zu schieben, halte ich für zu kurz gesprungen." Es müsse auch das Einsatzkonzept der Stadt und der Polizei hinterfragt werden, hieß es in dem MDR-Bericht.

Bundesjustizministerin und Opposition in Sachsen fordern Aufarbeitung der Geschehnisse

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verlangte eine "gründliche Aufklärung". "Was wir gestern in Leipzig gesehen haben, ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Demonstrationsfreiheit ist keine Freiheit zur Gewalt und zur massiven Gefährdung anderer." Auch Linke, Grüne und SPD in Sachsen verlangten eine Aufarbeitung der Geschehnisse in einer Sondersitzung des Innenausschusses. "Ein offensichtliches Planungsdesaster hat dazu geführt, dass der Staat in Leipzig gegenüber Feinden der Demokratie kapituliert hat und weder das Versammlungsrecht durchsetzen noch Angriffen auf Gegenprotest, Journalistinnen und Journalisten sowie die Polizei wirksam begegnen konnte", erklärte der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion Valentin Lippmann. Die Linken sprachen von "Staatsversagen".

Redaktion beck-aktuell, 9. November 2020 (dpa).