beck-aktuell: Herr Breidenbach, Rulemapping war zuerst eine Lernmethode für Studierende. Was ist die Geschichte dahinter?
Breidenbach: Rulemapping ist tatsächlich für den Hörsaal entstanden. Ich habe es ursprünglich als einen methodischen Lehransatz entwickelt, wie Studierende besser auf das juristische Arbeiten vorbereitet werden können: Komplizierte Regelungsstrukturen werden mithilfe einer Rulemap Schritt für Schritt visualisiert. Dabei wird das Gesetz Ebene für Ebene dargestellt, im BGB von der Anspruchsgrundlage über die Tatbestandsmerkmale bis zur Ausnahme, angelehnt an die juristische Denkweise.
Im rechtswissenschaftlichen Studium stopfen wir die Leute vor allem mit sehr viel Wissen voll. Juristisches Denken sollen sie dabei mitlernen. Aus meiner Sicht könnte man dieses Wissen radikal kürzen. Das klingt ketzerisch, aber was ich sagen will, ist: Man kann das auch anders machen. Man kann junge Studierende anleiten, über Klausuren in den angebotenen Wissensgebieten hinaus selbst methodisch zu arbeiten, sodass sie mit jedem Gesetz umgehen können, das man ihnen an die Hand gibt. Auch mit den unbekannten. Das ist aus meiner Sicht genau die Fähigkeit, die man als Jurist oder Juristin braucht: mit den Gesetzen von morgen umgehen zu können. Und eine Möglichkeit dafür ist Rulemapping. Die Aufgabe ist dann, aus unbekannten Normen eine Prüf- oder Entscheidungsstruktur zu entwickeln. Das schult, präzise juristisch zu denken.
"Wir ahnten, dass man viel mehr damit machen kann"
beck-aktuell: Wie wurde daraus dann ein Produkt, das die Verwaltung revolutionieren soll?
Breidenbach: Dass ich Rulemapping für meine Studierenden entwickelt habe, ist schon mehr als 25 Jahre her. Für mich und meinen ehemaligen Studenten – heutigen Partner – Tilo Wend lag es auf der Hand, dass man damit viel mehr machen kann. Das ahnten wir auch damals schon. Wir wollten, dass Rulemapping für die Digitalisierung in vielen Bereichen in Deutschland zum Einsatz kommt.
Aber wir wussten auch, dass man so etwas nicht an der Uni entwickeln kann. Also haben wir schließlich ein Unternehmen gegründet, der Vorgänger der Rulemapping Group. Unser Ziel war es, mit Rulemapping juristische Arbeit Schritt für Schritt zu unterstützen und zu automatisieren.
beck-aktuell: Wie genau funktioniert das?
Breidenbach: Heruntergebrochen: Rulemapping visualisiert Recht im Handlungszusammenhang. Es bildet Schritt für Schritt die Denk-, Prüf- und Arbeitsweise von Juristinnen und Juristen ab. Zugleich schafft die Visualisierung die Voraussetzungen für eine weitgehende Automatisierung. Jeder Schritt ist dabei komplett transparent. Und diese Nachvollziehbarkeit ist auch das Besondere an Rulemapping: Es ist keine Blackbox. Was unsere Automatisierungstechnologie macht, kann man an der Rulemap ablesen und das ermöglicht es dem Anwender, an jedem Punkt einfach einzugreifen. Das ist bei komplexen Sachverhalten besonders wichtig. Unsere neueste Entwicklung ist die Kombination unserer regelbasierten Rulemapping-Technologie mit generativer KI. Wir nennen es Rule Based AI. Sie liefert präzise und nachvollziehbare Entscheidungsvorschläge.
"Jede Form datengetriebener Verwaltung kann automatisiert werden"
beck-aktuell: Was glauben Sie, in der Verwaltung damit erreichen zu können?
Breidenbach: Sie lesen in der Zeitung auf jeder zweiten Seite, dass die Digitalisierung in Deutschland stockt. Dabei wollen wir doch eigentlich eine Verwaltung, die präzise, digital und effektiv arbeitet. Gerade angesichts der Tatsache, dass innerhalb der kommenden Jahre 40% des Personals in den Ruhestand gehen werden und auch neues Personal nicht einfach zu kriegen sein wird, muss die Verwaltung früher oder später ihre Prozesse automatisieren. Und das geht auch.
Jede Form von Verwaltung, die datengetrieben ist, kann auch automatisiert werden, egal ob Sie einen Förder- oder Sozialhilfeantrag stellen oder eine Baugenehmigung brauchen. Hier determinieren Daten die Entscheidung. Darüber hinaus lassen sich auch Entscheidungen mit unbestimmten Rechtsbegriffen durch unsere Rule Based AI in die genannten Entscheidungsvorschläge verarbeiten.
beck-aktuell: Könnten Sie das einmal praktisch erklären?
Breidenbach: Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus der Genehmigung von Industrieanlagen. Dafür muss z.B. ein umweltrechtliches Gutachten eingeholt werden. Eine Sachbearbeiterin liest dann dieses Gutachten und hat dabei ein Schema im Kopf, eine Checkliste der rechtlichen Voraussetzungen, die sie gedanklich abarbeitet. Und genau diese Aufgabe – das Gutachten lesen und die Checkliste abarbeiten – übernimmt die Rule Based AI. Die KI liest also das Gutachten und prüft dieses auf Basis der Rulemap, sprich der digitalisiert aufbereiteten, rechtlichen Vorgaben. So kann ein großer Teil des Genehmigungsverfahrens automatisiert bzw. mit präzisen Entscheidungsvorlagen ablaufen, was den Prozess enorm verkürzt und der Sachbearbeiterin wieder den nötigen Raum gibt, sich fachlich z.B. mit Ausnahmen, Sonderregelungen oder Optimierungen des Prozesses zu beschäftigen. Rulemapping ist eine Chance, in der Verwaltungsdigitalisierung den Turbo zu zünden.
beck-aktuell: Nun ist die Verwaltung ja nicht gerade dafür bekannt, besonders innovativ oder digital-affin zu sein. Viele Behörden tun sich schon mit der E-Akte schwer. Warum sollte gerade Rulemapping das ändern können?
Breidenbach: Das sehe ich nicht so. Es gibt sehr viele innovativ denkende Menschen in der Verwaltung. Manchmal haben diese in den komplexen politischen- und Verwaltungsumgebungen keine Chance, gehört zu werden. Aber es gibt diese Leute, die die Digitalisierung vorantreiben wollen. Letztlich können wir nur das Angebot machen. Wir haben diese Methode, die sehr viel zur Digitalisierung in Deutschland beitragen und sehr viel Geld und Zeit sparen könnte. Dann ist es an den Entscheidern in Politik, Verwaltung und auch in der Wirtschaft, zu sagen: Wir nehmen dieses Angebot an. Auch in den ersten 100 Tagen einer Regierung könnte man da schon viel bewegen.
"Rulemapping soll der Standard werden"
beck-aktuell: Sie wollen aber nicht nur die Verwaltung effizienter machen, sondern Rulemapping auch an den Gesetzgeber bringen. Was stellen Sie sich das vor?
Breidenbach: Die Idee ist einfach: Warum sollten wir nicht ein Gesetz von Anfang an so konzipieren, dass wir zuerst den Entscheidungsmechanismus bauen und erst im zweiten Schritt den Gesetzestext formulieren? Dann habe ich beides, die Struktur und das Gesetz, das unmittelbar nach dem Inkrafttreten in der digitalisierten Verwaltung angewendet werden kann. So gelangen wir direkt in einen digitalen Gesetzgebungsprozess. In der Fachwelt wird dieses Vorhaben bereits als Law as Code diskutiert.
beck-aktuell: Auch Investoren glauben anscheinend, dass das funktionieren kann. Kürzlich hat die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) sieben Millionen Euro in Rulemapping investiert. Was ist Ihre Vision für die kommenden Monate und vielleicht sogar Jahre?
Breidenbach: Im nächsten Schritt geht es für uns vor allem darum, an Ausschreibungen teilzunehmen, mit Ministerien zu sprechen und unser Angebot zu erklären. Ich bin davon überzeugt, dass Rulemapping ein Fundament für sehr viele zu digitalisierende rechtliche Prozesse sein kann. Wir können auch die Fachanwendungshersteller – z.B. auf kommunaler Ebene – mit unserer Entscheidungsarchitektur versorgen, mit der sie dann schneller weiterarbeiten können. Wir wenden uns aber auch an Unternehmen, um sie etwa bei Compliance-Lösungen zu unterstützen. Meine Vision ist, dass wir da in den nächsten zwei bis drei Jahren ein gutes Stück digitale Infrastruktur schaffen. Deshalb werden wir einen Teil unserer Werkzeuge Open Source für die Allgemeinheit zugänglich machen. Wir sehen Rulemapping als einen Standard für die Abbildung von Recht und Regeln. Aber zunächst hoffe ich erst einmal, dass es uns tatsächlich gelingt, in der Verwaltung den Turbo zu zünden.
Stephan Breidenbach ist Hochschullehrer, Unternehmer und Co-Gründer der Rulemapping-Group.
Die Fragen stellte Denise Dahmen.