Richterorganisationen verklagen Europäischen Rat wegen Entsperrung von EU-Mitteln für Polen

Der Europäische Rat muss sich für seine Entscheidung, den Aufbau- und Resilienzfonds für Polen zu entsperren, vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten. Vier europäische Richterorganisation haben geklagt, weil sie EuGH-Rechtsprechung nicht vollständig umgesetzt und eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter sehen.

Nichtigkeitsklage gegen Durchführungsbeschluss des Rates

Bei den klagenden Organisationen handelt es sich um die Vereinigung Europäischer Verwaltungsrichter, die Europäische Richtervereinigung, die Rechters voor Rechters und die Magistrats Européens pour la Democratie et les Libertés. Jede der vier Richterorganisationen folgt nach eigenen Angaben der Verpflichtung, die Unabhängigkeit der Justiz und die Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter überall in der EU zu verteidigen. Drei von ihnen haben (Verbände von) Richterinnen und Richtern aus Polen als Mitglieder. Bei der Klage handelt es sich um eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV gegen den Durchführungsbeschluss des Rates vom 17.06.2022, betreffend die Republik Polen, der gemäß der Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.02.2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität erlassen wurde.

Entsperrung von EU-Mitteln für Polen bei Erfüllung dreier "Meilensteine"

Der Europäische Rat hatte beschlossen, die EU-Mittel für Polen zu entsperren, sobald drei "Meilensteine" erfüllt sind, erläutern die Richterorganisationen. Erstens müsse die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs aufgelöst und durch ein unabhängiges Gericht ersetzt werden. Zweitens müsse das Disziplinarregime reformiert werden. Und drittens müssten Richterinnen und Richter, die von den Entscheidungen der Disziplinarkammer betroffen sind, das Recht haben, ihre Fälle von der neuen Kammer überprüfen zu lassen. Die vier europäischen Richterorganisationen argumentieren, dass diese Meilensteine hinter dem zurückbleiben, was erforderlich ist, um einen wirksamen Schutz der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter und der Justiz zu gewährleisten und die diesbezüglichen Urteile des EuGH missachten.

Entscheidung des Rates verschlechtert Position suspendierter Richter

Die Entscheidung verschlechtere die Position der suspendierten Richterinnen und Richter in Polen. Der EuGH habe entschieden, dass die polnischen Richterinnen und Richter, die von rechtswidrigen Disziplinarverfahren betroffen sind, unverzüglich, ohne Verzögerung und ohne ein Verfahren wiedereingesetzt werden sollten, während einer der Meilensteine ein Verfahren von mehr als einem Jahr mit einem ungewissen Ergebnis vorsehen würde. Die Entscheidung des Rates schade aber auch der europäischen Justiz insgesamt und der Position jeder einzelnen europäischen Richterin beziehungsweise jedes einzelnen europäischen Richters. Alle Richterinnen und Richter jedes einzelnen Mitgliedstaats seien auch europäische Richterinnen und Richter, die EU-Recht anwenden müssten, und zwar in einem System, das auf gegenseitigem Vertrauen beruhe. Wenn die Justiz eines oder mehrerer Mitgliedstaaten keine Garantien mehr für die Unabhängigkeit und die Achtung der Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit biete, sei die gesamte europäische Justiz unbestreitbar betroffen (sogenannter spillover-effect).

Vollstreckung der EuGH-Urteile in Gefahr

Als Grund für das Begehren, die Entscheidung des Europäischen Rates für nichtig zu erklären, nennen die Richtervereinigungen die Verdeutlichung des Grundsatzes, dass Urteile des EuGH zum Thema der Unabhängigkeit der Justiz unverzüglich und vollständig vollstreckt werden sollten und dass die EU-Organe auch nicht bloß teilweise inkohärent mit Urteilen des EuGH handeln dürfen. Der Beschluss des Europäischen-Rates verstoße gegen diesen Grundsatz, da damit keine vollständige – das heißt bedingungslose – Vollstreckung von Urteilen des EuGH vorliegt. Ziel der Klage sei es, dass der genannte Grundsatz festgestellt wird und eine Entscheidung der U-Kommission, EU-Mittel für Polen zu entsperren, solange verhindert wird, bis die Urteile des EuGH vollständig umgesetzt sind.

Redaktion beck-aktuell, 29. August 2022.