Richterin mit Kult-Status: Ruth Bader Ginsburg ist tot
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© Alex Brandon / AP / dpa

In Washington begegnet man Ruth Bader Ginsburg oft. Das Gesicht der Supreme-Court-Richterin prangt an Hausfassaden. In Souvenirläden ziert es T-Shirts, Kaffeetassen und Socken. Mal trägt Ginsburg ein Krönchen, mal Boxhandschuhe. Dem ständig wechselnden Kragen der Justiz-Ikone über ihrer schwarzen Richterrobe tragen ihre Abbilder ebenfalls Rechnung. Trotz schwerer Krankheit kam sie ihrem Amt bis zu ihrem Tod nach. Am Freitag ist Ginsburg nun gestorben. Sie wurde 87 Jahre alt.

Pionierin für Frauenrechte

Ginsburg gilt als Vorreiterin für Frauenrechte und liberale Denkweisen. Für die Gleichberechtigung ging sie als junge Juristin aber nicht auf die Straße: Stattdessen leistete sie als Richterin Pionierarbeit bei der Entwicklung von Gesetzen gegen die Diskriminierung von Frauen. Bevor sie selbst an den Supreme Court kam, habe sie den Richtern dort "wie eine Kindergärtnerin" erzählen müssen, dass Geschlechterdiskriminierung existiere, sagte sie einmal. Ginsburg machte sich auch für die Legalisierung der Abtreibung stark und sprach sich für die Gleichstellung von Homosexuellen aus. Mit ihrem jahrzehntelangen Kampf wurde Ginsburg zu einer Justiz-Ikone und einem Idol der Bürgerrechtsbewegung. Bereits in den 1970er Jahren war sie als Juristin vor dem Obersten Gericht erfolgreich gegen Regeln vorgegangen, die Frauen diskriminierten. Zu den wichtigsten Folgen gehört, dass sich im Supreme Court die Lesart durchsetzte, dass der 14. Zusatzartikel zur US-Verfassung auch die Gleichberechtigung der Frauen schützt. Auf dieser Basis konnte Diskriminierung von Frauen als verfassungswidrig angeprangert werden.

Studium in einer Männerdomäne

Im New Yorker Stadtteil Brooklyn kam Ginsburg am 15.03.1933 zur Welt. Mit ihrem Wunsch, Jura zu studieren, wagte sie sich in eine absolute Männerdomäne. Ihr Studium absolvierte sie unter anderem an der Elite-Universität Harvard. Später lehrte sie Jura an der Columbia-Universität in New York. Wie zäh Ginsburg war, bewies sie schon in frühen Studienjahren: Das Glück der jungen Familie wurde von der Krebserkrankung von Ginsburgs Mann Martin erschüttert. Fortan kümmerte sie sich nicht nur um ihr Studium und die wenige Monate alte Tochter Jane, sondern auch um ihren kranken Mann und dessen Studium. Jane und ihr Bruder James erzählten einmal, Ginsburg habe teilweise so viel und bis spät in die Nacht gearbeitet, dass sie das Wochenende praktisch verschlafen habe. Berüchtigt waren ihre scharf formulierten Minderheitsmeinungen bei Gericht, für die Ginsburg vor allem von vielen Nicht-Juristen gefeiert wurde. Auch ein Slogan setzte sich im Zusammenhang mit ihr durch: "You can't spell the truth without Ruth" - das englische Wort für Wahrheit lasse sich nicht ohne Ruth buchstabieren.

Am Supreme Court seit 1993

Es war Präsident Bill Clinton, der die liberale Juristin und damalige Berufungsrichterin 1993 für den Supreme Court nominierte. Die damals 60-Jährige wurde nach Sandra Day O'Connor die zweite Frau an dem Gericht und - wie alle Richter dort - auf Lebenszeit ernannt. Unter den Richtern, die ihre kniffligen Mehrheitsentscheidungen oft entlang ideologischer Linien treffen, zählte sie zum linksliberalen Block. Ernsthaft habe sie sich erstmals Anfang der 60er Jahre Gedanken über die Gleichberechtigung von Frauen gemacht, sagte Ginsburg einmal in einem Interview. Seinerzeit recherchierte sie für ein Buch über Zivilverfahren in Schweden, wo Frauen damals bereits einen deutlich größeren Anteil unter den Jura-Studenten ausgemacht hätten.

Trauernde vor dem Supreme Court

Am Wochenende versammelten sich Hunderte Trauernde vor dem Obersten Gericht. Ihr Tod bedeute, "dass wir kämpfen müssen, um wieder zu einem ausgewogenen Gericht zu kommen", sagte Sheila Martin, die am Samstag zu dem Gebäude kam. Kritik zog Ginsburg wegen Bemerkungen über den damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump auf sich. In Interviews hatte Ginsburg vor einer Präsidentschaft Trumps und vor ihm als Person gewarnt. Unter anderem bezeichnete sie ihn als Blender. Später nannte sie ihre Äußerungen unklug und versprach mehr Umsicht.

Schwere Erkrankungen in den letzten Jahren

Zuletzt hatte sich Ginsburgs Gesundheitszustand verschlechtert. Im Januar 2018 verpasste sie wegen einer Operation an der Lunge eine mündliche Verhandlung - laut US-Medienberichten erstmals in ihren 25 Jahren an dem Gericht. Im Juli wurde bekannt, dass sie erneut an Krebs erkrankt war. Schon während der Präsidentschaft Barack Obamas hatten Justizkreise Ginsburg angesichts ihres fortgeschrittenen Alters zum Rücktritt gedrängt, um dem Demokraten die Gelegenheit zu geben, einen Nachfolger zu platzieren. "Wen hätten Sie lieber im Gericht als mich?", konterte sie die Forderungen in einem Live-Interview.

Glück in der Liebe

Kämpferisch, nüchtern, arbeitswütig, nicht unbedingt für Smalltalk zu haben: So beschreiben Weggefährten die zierliche Brillenträgerin. Die Dokumentation "RBG - Ein Leben für die Gerechtigkeit" deckt diese Beschreibung. Sie zeigt Ginsburg auch außerhalb des Gerichts, in der Oper, im Fitnessstudio, bei ihrer Enkelin. Man erfährt etwas über die tiefe Verbundenheit zwischen Ginsburg und ihrem Mann. Er sei der erste Mann gewesen, der sich dafür interessiert habe, "dass ich ein Gehirn habe", sagte Ginsburg. Für "Marty" sei es in Ordnung gewesen, in der Beziehung die zweite Geige zu spielen. "Er war so selbstsicher, dass er mich nie als irgendeine Bedrohung ansah. Er war mein größter Unterstützer." Ginsburgs Mann starb im Jahr 2010.

"Notorious RBG"

Viele verehrten die Top-Juristin wie einen Popstar. In Anlehnung an den US-Rapper The Notorious BIG wurde Ginsburg der Spitzname "Notorious RBG" verpasst. Während der Corona-Pandemie machten Fotos eines Plakats in Washington die Runde in sozialen Netzwerken: "RBG arbeitet weniger als 5 Meilen von hier entfernt", war darauf zu lesen. "Wenn Du keine Maske trägst, um Deine Freunde und Familie zu schützen, tu es, um RBG zu schützen."

Nachfolge Ginsburgs wird zum Wahlkampfthema

Die Kontroverse um die Nachfolge Ginsburgs wird zum Wahlkampfaufreger in den USA werden. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden bekräftigte seine Forderung, den freigewordenen Posten im Supreme Court erst vom Sieger der Präsidentenwahl am 03.11.2020 besetzen zu lassen. Zugleich bereiten sich die Demokraten darauf vor, dass Präsident Donald Trump und die Republikaner-Mehrheit im Senat wie beabsichtigt Ginsburgs Posten neu besetzen und so die konservative Mehrheit im Obersten Gericht stärken. Dann würden Konservative sechs der neun Richter stellen. Bei den Demokraten gibt es für diesen Fall die Idee, das Oberste Gericht zu vergrößern und die neuen Sitze an liberale Richter zu vergeben.

Trump will Sitz noch vor der Wahl besetzen

Aber auch Donald Trump will mit der Ginsburg-Nachfolge in seinem Wahlkampf, der sich bisher stark um die Devise "Recht und Ordnung" drehte, neuen Enthusiasmus unter Sympathisanten der Republikaner erzeugen. "Wir werden diesen Sitz besetzen", verkündete Trump am Wochenende unter dem Jubel seiner Anhänger bei einem Wahlkampfauftritt in Fayetteville in North Carolina. "Besetzt den Sitz! Besetzt den Sitz!", rief die Menge wiederholt in Sprechchören. Biden appellierte an die republikanischen Senatoren: "Bitte folgen Sie ihrem Gewissen. Stimmen Sie nicht für jemanden, der unter diesen Umständen nominiert wurde." Er war selbst von 1973 bis 2009 im Senat und kennt auch viele der heutigen Mitglieder schon seit langem.

Mögliche Nachfolgerinnen

Als wahrscheinlichste Kandidatin Trumps gilt laut Medienberichten die Bezirksrichterin Amy Coney Barrett aus Chicago. Sie ist als klare Abtreibungsgegnerin bekannt - das ist ein zentrales Thema für Konservative in den USA. Der demokratische Minderheitenführer im Senat, Chuck Schumer, äußerte sich kritisch über Barrett: "Sie steht für all das, wogegen sich Ruth Bader Ginsburg einsetzte. Jemand mit dieser Philosophie gehört nicht in das Gericht." Verfassungsrichter werden in den USA auf Lebenszeit ernannt. Mit ihrem Alter von 48 Jahren hätte Barrett potenziell eine lange Zeit am Supreme Court vor sich. Als aussichtsreiche Bewerberin gilt auch die 52-jährige Richterin Barbara Lagoa. Sie kommt aus Florida und damit aus einem Bundesstaat, in dem sich der Ausgang der anstehenden Präsidentenwahl entscheiden könnte. Biden betonte, er werde entgegen der Forderungen Trumps keine Liste seiner möglichen Kandidaten für das Oberste Gericht präsentieren. Erstens könnte das die Handlungen dieser Personen in deren aktueller Richtertätigkeit beeinflussen, argumentierte er. Zweitens setze man die potenziellen Kandidaten unter den aktuellen Umständen politischen Attacken aus. Trump hatte eine Liste seiner Kandidaten veröffentlicht und Biden aufgefordert, das auch zu tun.

Redaktion beck-aktuell, 21. September 2020 (dpa).