Richter stellen Überlegungen zur Modernisierung des Zivilprozesses vor
Lorem Ipsum
© Boris Roessler / dpa

Im Mai 2019 haben die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs auf ihrer 71. Jahrestagung die Arbeitsgruppe "Modernisierung des Zivilprozesses" eingesetzt. Sie hat jetzt einen Zwischenbericht vorgelegt, in dem sie weitreichende Änderungen vorschlägt. Gerichtsverfahren sollen bürgerfreundlicher und effizienter werden, außerdem soll auf technische Entwicklungen reagiert werden.

Digitaler Bürgerzugang zur Ziviljustiz

Ein Thesenpapier der Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Präsidenten des OLG Nürnberg, Thomas Dickert, gibt einen Überblick über die wesentlichen Inhalte der bisherigen Überlegungen. Sie betreffen zunächst einen erleichterten elektronischen Zugang der Bürger zur Ziviljustiz. Hierzu soll nach dem Willen der Justizjuristen ein bundesweit einheitlicher elektronischer Bürgerzugang in Form eines Online-Portals eingerichtet werden. Über die Plattform sollen Anträge gestellt und bestimmte Verfahren geführt werden können. Erläuterungen und Abfragen sollen die Rechtsuchenden dabei unterstützen. Mehr noch: Der Vorschlag sieht "virtuelle Rechtsantragstellen" vor, die per Videokonferenz mit den Bürgern kommunizieren.

Optimierung des elektronischen Rechtsverkehrs

Ihre Verbesserungsvorschläge beginnen die Richterinnen und Richter interessanterweise mit einer Forderung, die bereits vielfach aus der Anwaltschaft erhoben wurde: Beim bisher ausschließlich personenbezogenen beA (besonderes elektronisches Anwaltspostfach) soll ein Kanzleipostfach eingeführt werden.  Beim elektronischen Empfangsbekenntnis plädiert der Arbeitskreis hingegen ganz eigensinnig für eine Reform, mit der zusätzlicher Aufwand bei den Gerichten vermieden werden soll. Hierzu kommen aus Sicht der Expertengruppe die Ersetzung des elektronischen Empfangsbekenntnisses durch eine automatisierte Eingangsbestätigung sowie eine Zustellungsfiktion in Betracht. Aufhorchen lässt die Forderung, das Telefax perspektivisch als Übermittlungsweg abzuschaffen. Bisher dürfte das aus Sicht der ganz herrschenden Meinung geradezu unvorstellbar sein. Mehrfacheinreichungen will der Arbeitskreis schon jetzt vermeiden, und zwar durch eine Auslagenpauschale, die die Rechtsanwälte als Kostenschuldner trifft.

Einführung eines elektronischen Nachrichtenraums

Zusätzlich will das Richtergremium den Rechtsrahmen für einen elektronischen Nachrichtenraum schaffen - "für eine schnellere und zeitgemäße Kommunikation zwischen Gericht und von ihm einbezogenen Prozessbeteiligten", heißt es im Thesenpapier. Der Nachrichtenraum soll in erster Linie dem formlosen Austausch elektronischer Nachrichten mit Rechtsanwälten und weiteren Verfahrensbeteiligten dienen, etwa für Terminabsprachen und -verlegungen oder den Austausch von Vergleichsvorschlägen. Perspektivisch sollen in ihm auch elektronische Dokumente zuverlässig und schnell zwischen Parteien und Gericht ausgetauscht werden können.

Zentrale Online-Gerichte mit beschleunigten Online-Verfahren

In einem weiteren Punkt greift der Arbeitskreis ein Thema auf, dass bereits mehrfach Gegenstand rechtspolitischer Diskussion war: Ein beschleunigtes Online-Verfahren eingeführt. Dabei handelt es sich laut Thesenpapier "um ein formularbasiertes Verfahren, das in der Regel vollständig im Wege elektronischer Kommunikation geführt wird." Die Verfahren sollen bei bestimmten Gerichten konzentriert werden können, so dass es möglich ist, zentrale Online-Gerichte einzurichten. Das Verfahren soll für die Klägerseite freiwillig sein und für Streitwerte bis 5.000 Euro in Betracht kommen. Eine mündliche Verhandlung soll nur ausnahmsweise und dann als Video- bzw. Telefonkonferenz stattfinden. Auch Beweise sollen im Rahmen einer Videoverhandlung erhoben werden. Es soll der Freibeweis gelten.

Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens

Ebenfalls nicht neu ist der Vorschlag eines strukturierten Parteivortrags, der in der Anwaltschaft auf viele Vorbehalte stößt. Er soll nach dem Thesenpapier unter den Bedingungen elektronischer Aktenführung in einem gemeinsamen elektronischen Dokument ("Basisdokument") abgebildet werden. Für die Parteien im Anwaltsprozess soll dies verbindlich sein, wobei das Gericht in ungeeigneten Fällen den bisher üblichen Austausch von Schriftsätzen anordnen kann. Die Gestaltung und die technischen Voraussetzungen für die Bearbeitung der Vorlage für das Basisdokument sollen durch Gesetz oder Verordnung festgelegt werden. Es umfasst jedenfalls das vollständige Parteivorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einschließlich der Sachanträge. Der Kläger- und Beklagtenvortrag zum Lebenssachverhalt soll im Sinn einer Relationstabelle nebeneinander dargestellt werden. Er ist nach einzelnen Lebenssachverhaltselementen - in der Regel chronologisch - und nicht nach Anspruchsgrundlagen gegliedert. Der wechselseitige Sachvortrag im Basisdokument soll im Lauf des Verfahrens verbindlich werden und anstelle des Tatbestands im Urteil die Entscheidungsgrundlage bilden. An dessen Stelle könne deshalb eine knappe Zusammenfassung des wesentlichen Sachverhalts treten, die die Entscheidungsgründe verständlich macht.

Videoverhandlungen und Protokollierung

Des Weiteren will der Arbeitskreis die Möglichkeit einer "virtuellen Verhandlung" per Videokonferenz schaffen, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhalten muss. Die Verhandlung soll für die Öffentlichkeit zeitgleich in einen vom Gericht bestimmten Raum in Bild und Ton übertragen werden. In geeigneten Fällen soll es dem Gericht zudem ermöglicht werden, Zeugen per Videoanruf zu vernehmen. Von Beweisaufnahmen soll - nach einer Übergangsfrist bis 2026 - zwingend ein schriftliches Wortprotokoll gefertigt werden. Grundlage für die (computergestützte) Verschriftlichung soll auch eine Videoaufzeichnung der Beweisaufnahme sein können. Die Videoaufnahme diene nur der Herstellung des Protokolls, ersetze dieses aber nicht, heißt es im Thesenpapier.

Effizientere Verfahren durch Einsatz technischer Möglichkeiten

Die Digitalisierung der Justiz will das Expertengremium unter anderem vorantreiben, indem es für eine Anpassung des Beweisrechts an elektronische Dokumente plädiert. Im Elektronischen Urkundenarchiv niedergelegte Urkunden sollen im Weg des Urkundenbeweises verwertet werden können. Überdies könne dieses Archiv auch als gerichtliches Titelregister für die Zwangsvollstreckung genutzt werden. Rationalisierungseffekte verspricht sich die Gruppe durch die Verwertung von Beweiserhebungen aus anderen Verfahren. Eine Übernahme auch audiovisuell aufgezeichneter Zeugenaussagen aus Strafprozessen als Ersatz für eine Zeugeneinvernahme im Zivilprozess wird dabei aber abgelehnt. Die Beiziehung von Gutachten aus Verwaltungsverfahren soll hingegen im Rahmen des § 411a ZPO zugelassen werden. Automatisierte Entscheidungen und den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Zivilprozess will der Kreis im Kostenfestsetzungsverfahren erproben. Die Schaffung eines entsprechenden Rechtsrahmens soll dies zunächst im Anwaltsprozess ermöglichen.

Erste Reaktionen und weiteres Vorgehen

In ersten Kommentaren vornehmlich in den sozialen Medien zeigten sich Anwälte und Richter positiv überrascht über die ambitionierten Pläne. Vereinzelt wurde die Hoffnung geäußert, der Gesetzgeber möge die Ideen noch in dieser Legislaturperiode aufgreifen. Kritisiert wurde die einseitige Zusammensetzung des Arbeitskreises ausschließlich mit Richtern, weshalb in den Vorschlägen die anwaltliche Perspektive fehle. Die Arbeitsgruppe selbst soll ihre Arbeit nach dem Willen der Präsidentinnen und Präsidenten fortsetzen. Die ausgearbeiteten Vorschläge sollen dann zunächst in der Richterschaft diskutiert werden. Hierzu ist die Veranstaltung eines Zivilrichtertags in geplant. Anschließend soll nach derzeitiger Planung der gesamte Bericht mit einer breiteren Fachöffentlichkeit diskutiert und der Rechtspolitik zur Verfügung gestellt werden.

Tobias Freudenberg, 22. Juli 2020.