Rechtspolitisches Allheilmittel: Kann (und soll) alles Wesen am Strafrecht genesen?
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Antisemitismus, Fremdenhass und Misogynie – all das möchte der Gesetzgeber mit Mitteln des Strafrechts bekämpfen. Gesellschaftliche Probleme verschwinden aber nicht, wenn man sie verbietet, meint Oliver Harry Gerson. Im schlimmsten Fall werde der Versuch gar zum Bumerang.

Bereits seit geraumer Zeit lässt sich die Tendenz beobachten, unerwünschte gesellschaftliche Entwicklungen mit Mitteln des Strafrechts zu adressieren und dadurch lösen zu wollen. Das Strafrecht avanciert so mehr und mehr zum primären Steuerungsinstrument im Umgang mit Phänomenen sozialer Desintegration und der allgegenwärtigen Verrohung des Umgangs und der Kommunikation.

Diese Dynamik lässt sich an jüngeren Erweiterungen des Strafgesetzbuches verdeutlichen: So wurde § 188 StGB (Beleidigung gegen Personen des politischen Lebens) im Jahr 2021 verschärft, um Mandatsträger umfassender gegen herabwürdigende öffentliche Angriffe zu schützen. Ebenso erfuhr § 130 StGB (Volksverhetzung) in seinem Absatz 5 Ende des Jahres 2022 eine Ausweitung um leugnende, billigende oder verharmlosende Äußerungen zu weiteren Völkerstraftaten neben dem nationalsozialistischen Unrecht (Absätze 3 und 4). Auch im Sexualstrafrecht hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren neue Straftatbestände eingeführt oder bestehende ausgeweitet (u.a. der auch dogmatisch nicht widerspruchsfreie § 184k StGB). 

Flankiert werden diese Erweiterungen, die allesamt heikle gesellschaftliche Bereiche (öffentliche Beleidigungen, Ausdrucksformen der Menschenfeindlichkeit und der sexualisierten Gewalt) betreffen, durch eine Akzentverschiebung im Allgemeinen Teil: In der Strafzumessungsnorm des § 46 StGB wurde in Abs. 2 S. 2 die bisherige Trias ("rassistisch, fremdenfeindlich, sonstig menschenverachtend") durch zwei Gesetzesänderungen ausdrücklich um "antisemitische, geschlechtsspezifische und gegen die sexuelle Orientierung gerichtete" Tatmotive ergänzt, die bei der Strafzumessung strafschärfend zu berücksichtigen sind.

Prügel taugen nicht zur Erziehung

Diese Entwicklung ist Ausdruck einer Erwartungshaltung, wonach das Strafrecht eine sichtbare und wirksame Antwort auf gesellschaftlich wahrgenommene (auch: diskursive) Fehlentwicklungen liefern kann und dies auch sollte. An dieser Erwartungshaltung darf man jedoch zweifeln: Auch das moderne und "humane" Strafrecht bleibt ein Instrument der Exklusion. Durch schlichten Ausschluss kann man regelmäßig keine integrative Einwirkung auf den gesellschaftlichen Diskurs erreichen.

Strafnormen sind Ermächtigungsgrundlagen für die Sanktionierung der Bürgerinnen und Bürger. Da der Grundrechtseingriff durch Strafe schwer wiegt, sind strafrechtliche Tatbestände eng am Wortlaut auszulegen (Art. 103 Abs. 2 GG) und der Schuldnachweis ist individuell zu führen (Art. 1 Abs. 1 GG). Prozessual streitet die Unschuldsvermutung im Zweifel für die Freiheit (Art. 6 Abs. 2 EMRK). Soll dennoch alles Wesen am und durch Strafrecht genesen, folgt darauf allenfalls eine Enttäuschung: Gesamtgesellschaftliche Phänomene wie die Umgangs- und Kommunikationsverrohung, die auf kollektive Dynamiken, strukturelle Gewalt oder phylogenetische Muster verweisen, sind schwer greifbar. Auswirkungen der kulturellen Differenzierung, genderdeterminierte Konflikte oder aufwallende gruppenbezogene Ressentiments werden dennoch zunehmend von der Strafrechtsfrage her gedacht. Lässt man dies unreflektiert so weiterlaufen, droht sich das Strafrecht in ein gesellschaftspädagogisches Erziehungsinstrument zu verwandeln, das am individuellen Beschuldigten durchexerziert wird.

Diese "Pädagogik" kuschelt nicht, sie prügelt: Wer – wenngleich erst frisch etikettierte – Straftaten begeht, darf für sein Verhalten nicht auf Toleranz und Verständnis hoffen. Er wird aus dem Diskursraum entfernt. Der Versuch, als missliebig empfundene gesellschaftsinvasive Meinungen und Verhaltensweisen durch strafrechtliche Normsetzung zu verdrängen und auf diese Weise zu "lösen", ersetzt jedoch nicht die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen. Vereinfacht ausgedrückt: Menschenfeindlichkeit endet – wie Armut, Niedertracht oder Krieg – nicht einfach dadurch, dass man sie verbietet.

Mancher Strafprozess verschlimmbessert die Zustände

Faktisch sind die Folgen eines gesellschaftlichen Erziehungsversuchs durch Strafrecht oftmals kontraproduktiv. So kam es etwa im Strafverfahren gegen einen Mann (ein ehemaliger Polizeibeamter), der die frühere Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli als "Quotenmigrantin der SPD" und "islamische Sprechpuppe" diffamiert hatte, erstinstanzlich zu einem Freispruch. Die Meinungsfreiheit, so das Gericht, überwiege in diesem konkreten Kontext. Unabhängig davon, wie man rechtlich zu dieser Einschätzung steht: Gesellschaftlich kann der Eindruck entstehen, das Gesagte sei legitimiert, nahezu gerichtlich geadelt worden. Die aufgrund der hohen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit stets mögliche Straflosigkeit im Einzelfall wird quasi zum Beleg für eine vermeintliche Zustimmung umgedeutet: Man "darf" so etwas also sagen. Der erzieherische Effekt geht damit völlig nach hinten los. 

Aussagen, bei denen ohnehin ein gesamtgesellschaftlicher Konsens über deren Unanständigkeit besteht, können in Form des "Streisand-Effekts" und durch die Restriktionslogik des Strafrechts auf diese Weise zu falsch genordeten Kompassen der Meinungs(un-)kultur verkommen. Unterhalb einer – zugegeben: nicht immer leicht zu definierenden – (Toleranz-)Schwelle wird das Problem des verrohten Diskurses also nur noch größer, wenn man mit dem (Strafrechts-)Finger darauf zeigt.

Strafrecht kann gesellschaftliche Meinungsstreite nicht sinnvoll lösen

Auch dogmatisch kann der Lenkungsversuch durch Strafrecht in eine gegensätzliche Richtung führen: Ein besonders sensibles Beispiel für eine kritikwürdige Gesetzesreform liefert die Erweiterung des § 46 StGB um die Berücksichtigung antisemitischer Tatmotive (s.o.). Dogmatisch und praktisch handelt es sich – da diese Motive auch vor der Reform bereits umfänglich von § 46 Abs. 2 StGB erfasst waren – um reine Betroffenheitslyrik. Der Gesetzgeber verweist hierbei explizit auf die historische Verantwortung Deutschlands. Eine solche steht auch nicht in Streit und entfaltet Symbolwirkung. Gehört diese Symbolwirkung allerdings explizit ins Strafrecht? Seither stellt sich in jedem einschlägigen Fall nämlich die heikle Frage, welches inhaltliche Verständnis von Antisemitismus im Strafrecht überhaupt Anwendung findet. 

Die international diskutierten Definitionen – etwa die der International Holocaust Remembrance Alliance oder der Jerusalem Declaration – sind jeweils umstritten. Der in diesem Bereich neuerdings offen geführte Kulturkampf hat die berüchtigte "dünne Decke der Zivilisation" bereits zum Abblättern gebracht. Welches Verständnis von Antisemitismus darf – oder muss – ein deutsches Gericht also anwenden? Ein besonders enges, ein besonders weites, ein besonders kontemporäres? Existieren mehrere Definitionen, die bei der Subsumtion in einem konkreten Fall den antisemitischen Hintergrund der angeklagten Tat einmal bejahen und einmal verneinen und damit die Strafzumessungserwägungen nach § 46 Abs. 2 S. 2 StGB unmittelbar beeinflussen, muss dieser Streit tatsächlich entschieden werden. Da es sich nicht um eine prozessuale, sondern eine Rechtsfrage handelt, gilt kein "in dubio"-Grundsatz. Aufgrund des drohenden Grundrechtseingriffs bleibt also legitimationsbedürftig, weshalb ein Gericht aus mehreren Deutungen gerade diejenige wählt, die für den Täter vorteilhaft ist (und damit "mehr Antisemitismus" duldet) oder nachteilig wirkt (und damit "weniger Antisemitismus" duldet). Ein peinlicher Eiertanz um die "richtige" Antisemitismusfunktion beginnt. 

Diese strafrechtsdogmatische Notwendigkeit in der Auslegung des Gesetzes birgt die Gefahr, dass Gerichte normativ festlegen, welche antisemitisch motivierten Verhaltensweisen strafrechtlich noch auszuhalten sind. Exakt dasselbe kann bei antimuslimischen, ableistischen, misogynen oder anderen gruppenbezogen menschenfeindlichen Handlungen der Fall sein: Der kleinste gemeinsame Nenner der Hassdefinition verkümmert, die Schwelle des noch Erlaubten wird sogar noch angehoben. Das Strafrecht erweist dem Minderheitenschutz dadurch einen Bärendienst. 

Strafrecht muss das letzte Mittel bleiben

Strafrecht darf keine billige Abräumhalde für gesellschaftspolitische Ambitionen sein, um Handlungsstärke und Wirksamkeit vorzugaukeln. Recht schnell zerschellen die Bestrafungsfantasien an den Klippen der Wirklichkeit: Der Mangel an Ressourcen führt bereits jetzt dazu, dass eine eklatante Zahl an Fällen nicht verfolgt oder Verfahren eingestellt werden. Zum Teil werden zunächst erhöhte Strafrahmen sogar wieder abgesenkt, weil sie jedweden Spielraum für eine Diversion in minderschweren Konstellationen vernichtet haben (u.a. § 184b Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 StGB) und damit die Allgemeinheit eher belasteten als schützten. Mehr Strafrecht zu fordern, umfasst zugleich, mehr Verantwortung für die Ausstattung von Strafverfolgung und Justiz übernehmen zu wollen. Davon hört und liest man jedoch wenig. 

Real existente gesellschaftliche Fehlentwicklungen lassen sich weder durch moralisch aufgeladenes Symbolstrafrecht noch durch expressive Normsetzungstendenzen langfristig korrigieren. Im besten Fall verpuffen die guten Absichten, im schlimmsten Fall verkehren sie sich sogar ins Gegenteil. Das Strafrecht zu hypertrophieren ist somit eine Hypothek für Rechtsstaat und Demokratie. Um gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu begegnen, müssen vielmehr diejenigen politischen, kulturellen und sozialen Räume gestärkt werden, in denen Differenz und Dissens nicht vorschnell kriminalisiert, sondern artikuliert und verhandelt werden. Statt also das Strafrecht mit Lösungserwartungen für gesellschaftliche Konflikte zu überfrachten, sollte man sich auf seine begrenzte, dabei aber zentrale Funktion rückbesinnen: Schutz wichtiger Rechtsgüter, Ausdruck elementarer Unrechtstadelung und ultima ratio rechtlicher Reaktion. 

Kurzum: Das Strafrecht ist kein Allheilmittel für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Es ist ein sorgsam und vor allem äußerst sparsam einzusetzendes Stigmatisierungsinstrument. Weniger ist hier – wie so oft – mehr.

PD Dr. Oliver Harry Gerson ist Lehrstuhlvertreter des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Universität Leipzig. Der Beitrag basiert auf seinem Referat auf dem diesjährigen Deutschen Anwaltstag zum Thema: "Mehr Strafrecht wagen? – Taugt das Strafrecht als Allheilmittel gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen?".

Gastbeitrag von Dr. Oliver Harry Gerson, 11. Juni 2025.

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