Rechtsgutachten zum Maut-Desaster: Deshalb will der Bund nicht gegen Scheuer klagen
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picture alliance / SvenSimon | Frank Hoermann/SVEN SIMON

Nur wenige Monate, bevor der EuGH die PKW-Maut 2019 für europarechtswidrig erklärte, hatte der verantwortliche Verkehrsminister Andreas Scheuer einen Vertrag ohne Ausstiegsklausel geschlossen. Gestützt auf ein Gutachten der Kanzlei Müller-Wrede teilte das Verkehrsministerium am Donnerstag mit, dass der Bund deshalb nicht gegen ihn klagen wird.

Der Bund geht wegen der Folgekosten der gescheiterten Pkw-Maut nicht juristisch gegen den früheren Ressortchef Andreas Scheuer (CSU) vor. Wie das Bundesministerium für Verkehr und Digitales (BMDV) am Donnerstag mitteilte, folgt der Bund damit einem von dem Ministerium in Auftrag gegebenen Gutachten der Berliner Kanzlei Müller-Wrede, das im Ergebnis von einer Klage wegen möglicher Haftungsansprüche abrät. 

Die Anwältinnen und Anwälte Christoph von Donat, Julia Lipinsky und Marie-Sybil von Dulong kommen zu dem Schluss, dass eine Klage gegen Bundesminister a. D. Scheuer nur geringe Aussichten auf Erfolg hätte. Dies betrifft laut dem Gutachten vor allem die Frage der Rechtsgrundlage für einen Haftungsanspruch sowie den Vorwurf einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung.  Die Gutachterinnen und der Gutachter verweisen deshalb „auf das ganz erhebliche Prozessrisiko und die begründeten Zweifel an der Durchsetzbarkeit möglicher Ansprüche". Das Ministerium von Volker Wissing (FDP) folge dieser Empfehlung, "auch um weiteren Schaden für den Steuerzahler abzuwenden", heißt es in der Mitteilung. Es betont zugleich: "Unabhängig davon bleibt es bei der unbestrittenen politischen Verantwortlichkeit von Bundesminister a.D. Scheuer". Die 243 Millionen Euro, die das Gutachten als die Zahlungsverpflichtung des Bundes benennt, die sich im Ergebnis des Schiedsverfahrens im Nachgang zu dem geplatzten Maut-Deal mit dem Betreiber realisiert hätte, bringt das allerdings nicht zurück.   

Vertrag ohne Exitstrategie kurz vor dem EuGH-Urteil

Die Pkw-Maut - ein Prestigeprojekt der CSU in der damaligen Bundesregierung - war 2019 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als europarechtswidrig gestoppt worden. Damals war Scheuer Verkehrsminister, das Projekt Maut lief seit 2015.  Die Infrastrukturabgabe sollte sowohl von inländischen als auch von ausländischen Fahrzeughaltern erhoben werden, nur die deutschen Kfz-Halter sollten aber in mindestens gleicher Höhe von einer Steuerentlastung bei der Kfz-Steuer profitieren. Ende Dezember 2018, wenige Monate vor dem mit Spannung und erheblichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Pläne erwarteten Urteil aus Luxemburg, schloss die Bundesrepublik auf Betreiben von Minister Scheuer den Vertrag über die Entwicklung, den Aufbau und den Betrieb des Mautsystems mit dem Betreiber autoTicket GmbH sowie seinen Gesellschaftern CTS Eventim AG & Co.KGaA und Kapsch TrafficCom AG. 

Direkt nach dem Urteil des EuGH kündigte der Bund den Vertrag wieder, das anschließende vertraglich vorgesehene Schiedsgerichtsverfahren endete damit, dass die Bundesrepublik den Betreibergesellschaften einen Betrag von 243 Mio. EUR zu zahlen hat. Abzuziehen wären natürlich, darauf weist das Gutachten ausdrücklich hin, Sowieso-Kosten, die unvermeidbar waren. Ob sich ein durchsetzbarer Haftungs- bzw. Schadensanspruch gegen seinen Vorgänger ergebe, wollte der heutige Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) wissen, der deshalb das Gutachten in Auftrag gab.

Die Kanzlei Müller-Wrede ist nach eigenen Angaben spezialisiert auf Vergabe und Beihilfenrecht, der zuerst genannte Gutachter Donat vertritt anwaltlich vor dem EuG und dem EuGH und war in den 90-er Jahren Leiter der Stabsabteilung „Beziehungen zum Bund, zur Europäischen Union, Internationale Beziehungen“ der Treuhandanstalt. Mit seinen Kolleginnen beziffert er das Prozesskostenrisiko des Bundes bei einer Klage gegen Scheuer auf rund 3,6 Mio. EUR, es könne aber durch die Erhebung einer Teilklage verringert werden. "Die Wertung, ob trotz der auch hierfür nur geringen und unsicheren Erfolgsaussichten einer Schadenersatzklage das Verfahren mit dem Ziel der Rechtsfortbildung betrieben werden sollte, obliegt dem Bund", schreiben die Berliner Anwälte. Aus anwaltlicher Sicht überwiege das Prozess- und Kostenrisiko. 

Keine Haftungsnorm für Minister

Das Gutachten bezweifelt schon eine tragfähige Rechtsgrundlage für einen Anspruch gegen den damaligen Minister. Eine Amtshaftung nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 Satz 1 GG wäre nur Grundlage für Ansprüche eines Dritten gegenüber dem Dienstherrn eines Amtswalters. Der Bund aber sei zwar Dienstherr, aber nicht Dritter im Sinne dieser Vorschrift.

Da der Bund auch nicht im Wege der Amtshaftung von Dritten in Anspruch genommen wird, sondern der Betreibergesellschaft aufgrund Vertrags haftet, scheide auch ein Regress des Bundes gegenüber seinem Amtswalter nach Art. 34 Satz 2 GG aus. Anders als zum Beispiel in Bayern gibt es weder im Bundesministergesetz (BMinG) noch an anderer Stelle eine Haftungsnorm für Minister, laut den Gutachterinnen und dem Gutachter ist das auch keine planwidrige Regelungslücke: "Das Bundesministergesetz ist vom Gesetzgeber als Zusammenfassung des gesamten für das Amtsverhältnis der Mitglieder der Bundesregierung maßgebenden Rechts formuliert worden, welches Verweise auf das Beamtenrecht nur ermöglicht, wenn das BMinG es ausdrücklich bestimmt", heißt es im Gutachten. "Gegen eine analoge Ministerhaftung lässt sich auch das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe in Art. 20 Abs. 3 GG anführen."

Eine Haftung aus § 280 Abs. 1 BGB wegen Verletzung seiner Pflichten aus seinem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis zum Bund halten die Gutachter noch am ehesten für denkbar. Sie nennen das eine "analoge Inanspruchnahme", gehen aber davon aus, dass Minister und Ministerinnen vermutlich von Gerichten nicht so in Anspruch genommen würden wie zum Beispiel Geschäftsführer, weil für sie eben keine D&O-Versicherungen abgeschlossen würden. Einfache Fahrlässigkeit dürfte daher, so das Gutachten, nicht ausreichen. 

Haftungsmaßstab unklar, Beweislast beim Bund 

Anknüpfungspunkt für die objektive Pflichtverletzung sei, dass Scheuer bei Abschluss des Vertrags mit den Betreibern das Risiko nicht einkalkulierte, dass der EuGH das Maut-Projekt verbieten würde. Es habe keine entsprechende Risikobewertung gegeben und keinen Versuch, einen Passus für diesen Fall in den Vertrag hineinzuverhandeln, der den Schaden des Bundes verkleinert hätte. "Nur wenn es gelungen wäre, die im Vertrag vorgesehene Schadensersatzpflicht auf das notwendige Mindestmaß zu reduzieren, hätte das Risiko eines negativen Urteils des EuGH mit der Folge eines Abbruchs des Projekts Pkw-Maut ohne weitere Aufklärung in Kauf genommen werden dürfen", heißt es im Gutachten.

Und doch sehen die Anwältinnen und der Anwalt den Vorwurf grober Fahrlässigkeit in mehrfacher Hinsicht mit deutlichen Unsicherheiten behaftet: Der konkrete Maßstab und die Pflichten, die ein Gericht an einen Minister anlegen würde, seien unklar, weil es keine Präzedenzfälle gebe. Die Beweislast für die grobe Fahrlässigkeit liege beim Bund, zudem würde Scheuer sicherlich versuchen, sich auf fehlerhafte oder zumindest missverständliche Unterrichtung zur Risikoeinschätzung und -vorsorge zu berufen. Die subjektive Seite seines Handelns lasse sich außerdem nicht vollständig aufklären. Der Jurist und die Juristinnen halten es für "durchaus denkbar, dass ein Gericht die subjektive Vorwerfbarkeit für notwendig ansieht und im vorliegenden Fall das Maß der groben Fahrlässigkeit für nicht erreicht hält". 

Dass der Bundestag die Bundesregierung für das Jahr 2018 entlastet hat, würde laut Berliner Kanzlei hingegen wohl nicht schaden und auch eine denkbare Erhebung der Einrede der Verjährung durch Scheuer hält sie offenbar für nicht allzu erfolgversprechend. Insgesamt aber schätzen die Anwältinnen und der Anwalt das Risiko für zu hoch ein. Das Wissing-Ministerium schließt sich dieser Wertung an. Damit steht fest, dass Andreas Scheuer für das "Maut-Desaster" nicht zur Verantwortung gezogen wird. Und auch, dass zumindest durch richterliche Rechtsfortbildung bis auf weiteres nicht geklärt werden wird, ob und inwieweit Ministerinnen und Minister auf Bundesebene für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können. 

Redaktion beck-aktuell, Pia Lorenz, 28. Dezember 2023.