1. April 1924: München fieberte. Um 10.05 Uhr verkündete der Vorsitzende Richter des Volksgerichts München I, Landgerichtsdirektor Georg Neidhart, das Urteil. Das Verfahren betraf den Putschversuch vom 9. November 1923, es hatte 24 Verhandlungstage gedauert. Angeklagt waren – neben Adolf Hitler (Berufsbezeichnung Schriftsteller) – Weltkriegsveteran und General Erich Ludendorff, ein Amtskollege Neidhardts, nämlich der Oberlandesgerichtsrat Erich Pöhner, der spätere NS-Innenminister Wilhelm Frick sowie der spätere SA-Chef Ernst Röhm.
Aus Sicherheitsgründen fand der Prozess im Speisesaal einer Infanterieschule statt. Alles war durch Wachen und Stacheldrahtreiter gesichert. Die Polizeibehörden hatten die Münchnerinnen und Münchener durch Plakatanschläge und in der Presse darauf aufmerksam gemacht, dass noch immer die Bestimmungen des Ausnahmezustandes vom November 1923 galten. Politische Versammlungen waren verboten. Sollte es trotzdem aus "Zusammenrottungen" zu Gewalttätigkeiten und Unruhen kommen, war dies mit hoher Strafe bedroht.
Der Tag der Urteilsverkündung war ein Spektakel. Vor dem durch Polizei- und Reichswehreinheiten stark gesicherten provisorischen Gerichtsgebäude warteten über 1.000 Schaulustige. Hitler und die anderen Angeklagten winkten ihnen später aus dem Fenster zu und posierten nach dem Verlassen des Gebäudes noch für ein Gruppenfoto. Und die Männer konnten lächeln: Hitler sowie drei weitere Angeklagte wurde je zu fünf Jahren Festungshaft – abzüglich ihrer jeweiligen Untersuchungshaft – und einer Geldstrafe von zweihundert Goldmark verurteilt; die Angeklagten Röhm und Frick sowie drei weitere Angeklagte erhielten Strafen zu je einem Jahr und drei Monaten Festungshaft wegen Beihilfe zum Hochverrat. Ludendorff wurde – unter Anwendung abenteuerlicher Argumentationsakrobatik – freigesprochen. Die milden Strafen waren aber nicht der einzige Fehler des Gerichts.
München statt Leipzig: Das unzuständige Gericht
Zuerst: München war der falsche Gerichtsort. Die Reichsregierung hatte zu Recht Mitte November 1923 den Oberreichsanwalt angewiesen, das Verfahren beim Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik in Leipzig einzuleiten. Denn seit Juli 1922 war Republikschutz Sache des Reiches. § 13 Abs. 1 des Republikschutzgesetzes bestimmte, dass "Hochverrat" durch den Staatsgerichtshof beim Reichsgericht abzuurteilen war. Allerdings hatte Bayern wenige Wochen später eine "Verordnung zum Schutze der Verfassung der Republik" erlassen, welche die Zuständigkeit für Hochverrat – abweichend vom Republikschutzgesetz – den Volksgerichten übertrug. Die Rechtmäßigkeit der bayerischen Volksgerichte war und ist umstritten. Sie dürften gemäß Art. 105 S. 1 WRV als "Ausnahmegerichte" verfassungswidrig gewesen sein.
In der Kabinettssitzung am 19. November 1923 war die Einschätzung der Reichsregierung klar: Die Vorgänge im Bürgerbräukeller in München am 8. November erfüllten den Tatbestand eines gegen das Reich gerichteten hochverräterischen Unternehmens. Allerdings scheute das Reich die weitere Auseinandersetzung mit Bayern.
So kam es am selben Tag zu einem Treffen von Vertretern Bayerns mit dem Staatssekretär Joel im Reichsjustizministerium. Das Reich vertrat die Ansicht, dass das Republikschutzgesetz als verfassungsänderndes Gesetz auch das bayerische Volksgerichtsgesetz aufgehoben habe. Die bayerischen Unterhändler argumentierten dagegen. Das Volksgericht München I habe bereits richterliche Entscheidungen getroffen und das Strafverfahren gegen die Putschisten schon begonnen. Außerdem dürfte eine Durchführung des Strafverfahrens durch den Staatsgerichtshof nicht möglich sein, weil das Republikschutzgesetz durch die Verordnung des bayerischen Generalstaatskommissars in Bayern ausgesetzt worden sei. Die Durchführung des Strafverfahrens vor dem Volksgericht München konnte schließlich aufgrund politischer Verhandlungen und Kompromisse zwischen Bayern und der Reichsregierung stattfinden.
Keine Berücksichtigung von Tötungen, Geiselnahmen und einer Putsch-Verfassung
Diese Entscheidung hatte gravierende Folgen für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Im Urteil von Richter Neidhart werden schwerwiegende Teilhandlungen des Putschgeschehens verharmlost und verschleiert.
Dazu gehören folgende Tatkomplexe: Am Morgen des 9. November 1923 ließ Hitler 32 bewaffnete SA-Männer zwei Druckereien überfallen. Dabei wurden 14.605 Billionen Reichsmark (oder 28.000 Goldmark) erbeuten. Jeder Putschist erhielt 2 Billionen Mark, also 3,17 US-Dollar. Zudem zerstörten die SA-Leute die Einrichtungen der sozialdemokratischen Zeitung "Münchener Post" und durchsuchten die Wohnung des Vizepräsidenten des bayerischen Landtages, Erhard Auer (SPD). Schließlich wurden der Erste Bürgermeister Eduard Schmid (SPD) sowie weitere sozialdemokratische Stadträte und 20 jüdische Bürgerinnen und Bürgern als Geiseln "festgenommen" und zum Bürgerbräukeller gebracht. Der Bankraub wird im Urteil zur "Beschlagnahme" verniedlicht. Die Zerstörung der Münchener Post sowie die Geiselnahme wird den Angeklagten nicht zugerechnet bzw. als Schutzmaßnahme ("weil sie sonst von der Volksmenge erschlagen worden wären") gerechtfertigt.
Auch die Verantwortung der Angeklagten für die gezielte Tötung von Polizisten verschleierte das Gericht: Als die Hochverräter vor der Feldherrenhalle auf die bayerische Landespolizei trafen, stellte sich der Polizei-Hauptmann Rudolf Ritter von Schraut dem Zug der Putschisten entgegen und befahl die Auflösung des Marsches. Darauf wurde er aus der Ansammlung heraus zusammen mit den Polizisten Friedrich Fink, Max Schoberth und Nikolaus Hollweg erschossen. Diese Toten werden im Urteil nicht einmal erwähnt. Erst 2010 wurde auf Veranlassung von Otto Gritschneder eine Gendenktafel für die vier Polizisten an der Fassade der Münchner Residenz angebracht.
Hochverrat erwiesen, aber geleitet von "vaterländischem Geiste"
Keine Erwähnung im Urteil findet auch der "Verfassungsentwurf" des mitmarschierenden Richters Theodor von der Pfordten. Von der Pfordten war Mitglied des Bayerischen Obersten Landesgerichts und sollte nach dem Plan der Putschisten Reichsjustizminister werden. Ihm konnte nicht der Prozess gemacht werden, weil er bei der Abwehr der Putschisten von der Polizei erschossen wurde. In seiner Manteltasche wurde die "Notverfassung" gefunden, die er zusammen mit Hitler in seinem Dienstzimmer entworfen hatte. Neithardt hielt die Notverfassung nur für "ein bißchen Geschwätz".
Der Entwurf bestand aus 31 Paragrafen und begann damit, dass die Weimarer Reichsverfassung aufgehoben werde. Exekutive, Judikative und Legislative sollten auf einen "Verweser" übergehen und alle parlamentarischen Körperschaften aufgelöst werden. Des Weiteren konnten die Verweser "sicherheitsgefährliche Personen und unnütze Esser" in Sammellager zur Zwangsarbeit internieren. Sie konnten Personen mit "Reichs- oder Landesacht" belegen, so dass diese keinen Rechtsschutz mehr genossen. Auch konnten sie Strafrahmen nach Gutdünken erhöhen und alle Akte der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung seit 1918 nachprüfen und ändern. Nahezu alle Grundrechte konnten "außerhalb der gesetzlichen Grenzen" beschränkt werden. Das "gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der Angehörigen des jüdischen Volks" konnte beschlagnahmt werden. Die "Verfassung" von der Pfordtens enthielt über 20-mal die Androhung der Todesstrafe.
Neidhardt musste zwar zugegeben, dass das ganze Unternehmen ein Hochverrat war, der auch nicht durch ein "übergesetzliches Notrecht" oder einen "Staatsnotstand" gerechtfertigt werden konnte. Allerdings kam das Gericht zu der Überzeugung, "dass die Angeklagten bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren. Alle Angeklagten, die in die Verhältnisse genauen Einblick hatten […] glaubten nach bestem Wissen und Gewissen, dass sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müssten, und dass sie dasselbe täten, was kurz zuvor noch die Absicht der leitenden bayerischen Männer gewesen war. Das rechtfertigt ihr Vorhaben nicht, aber es gibt den Schlüssel zum Verständnis ihres Tuns. Seit Monaten, ja Jahren waren sie darauf eingestellt. Dass der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müsste."
Hitler bekommt Bewährung trotz Vorstrafen und Bewährungsverstößen
Hitler war bereits Mitte Januar 1922 wegen gewaltsamer Störung einer Veranstaltung des Bayernbundes vor dem bayerischen Volksgericht angeklagt und wegen Landfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von 100 Tagen und zur Zahlung von 1.000 Reichsmark verurteilt worden, musste von dieser Strafe jedoch nur einen Monat absitzen. Auch hieran war Georg Neidhardt beteiligt, der den Rest zur Bewährung aussetzte. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft entschied das Bayerische Oberste Landesgericht "[…] dass die Angeklagten durchweg gut beleumundet sind und eine im Wesentlichen straffreie Vergangenheit hinter sich haben sowie dass ihre an sich nicht zu rechtfertigende Handlungsweise nicht der Ausfluss gemeiner Gesinnung, sondern hemmungsloser politscher Leidenschaft gewesen ist".
Als Hitler am 1. Mai 1923 mit bewaffneten Einheiten im Norden Münchens zum Oberwiesenfeld marschierte, verstieß er gegen seine Bewährungsauflagen. Das wegen Landfriedensbruchs darauf eingeleitete Strafverfahren wurde vom bayerischen Justizminister Franz Gürtner, der zum Dank später unter Hitler Reichsjustizminister wurde, verschleppt. Diese Vorgeschichte zeigt, dass das Unterschlagen von Hitlers Vorstrafen durch Neithardt kein "Ausrutscher" war.
Keine Ausweisung Hitlers
Die im Republikschutzgesetz zwingend vorgeschriebene Ausweisung von verurteilten Ausländern wandte das Gericht auf den mehrfach vorbestraften Österreicher Hitler nicht an. Die Begründung: "Hitler ist Deutschösterreicher. Er betrachtet sich als Deutscher. Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler, der freiwillig 4 ½ Jahre lang im deutschen Heere Kriegsdienste geleistet, der sich durch hervorragende Tapferkeit vor dem Feinde hohe Kriegsauszeichnungen erworben hat, verwundet und sonst an der Gesundheit beschädigt und vom Militär in die Kontrolle des Bezirkskommandos München I entlassen worden ist, kann nach Auffassung des Gerichtes die Vorschrift des § 9 II des Republikschutzgesetzes ihrem Sinn und ihrer Zweckbestimmung nach keine Anwendung finden."
Der Rest ist traurige Geschichte: Für Hitler war der Prozess ein riesiger Propagandaerfolg. Seine Haft endete schon am 20. Dezember 1924 um 12.15 Uhr. Das Bayerische Oberste Landesgericht verwarf eine Beschwerde der Staatsanwalt gegen einen entsprechenden Beschluss des Landgerichts. Ein erneutes Versagen der Justiz. Die begünstigende Prozessführung und das milde Urteil zahlten sich für den Landgerichtsdirektor Neithardt aus. Sobald Hitler Reichskanzler wurde, sorgte er dafür, dass "sein" Richter trotz vorgerückten Alters noch kurz vor der Pensionierung zum Präsidenten des Oberlandesgerichts München befördert wurde. Wäre die deutsche und europäische Geschichte anders verlaufen, wenn Hitler – wie das Gesetz es befahl – ausgewiesen worden wäre oder zumindest seinen Strafrest bis zum 18. Januar 1929 hätte absitzen müssen? Die Antwort gab schon 1937 im Rahmen der amtlichen Pensionierungsfeier Neidhardts der Vizepräsident des Oberlandesgerichts München Alfred Dürr: Neithardts Tat habe "weltgeschichtliche Bedeutung". Ohne sie wäre die spätere Machtergreifung nicht möglich gewesen.
Franz Josef Düwell ist Vorsitzender Richter a. D. am Bundesarbeitsgericht und Präsident der Arnold-Freymuth-Gesellschaft. Er ist Herausgeber des Buchs "Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte" (Symposium der Arnold-Freymuth-Gesellschaft, Hamm, 14. November 1999, Baden-Baden, 2000).
Sebastian Felz ist Vorstandsmitglied des "Forum Justizgeschichte