Rechtsausschuss erörtert Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren
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Bei einer Anhörung im Rechtsausschuss haben die Experten den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Erweiterung der strafverfahrensrechtlichen Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten Verurteilter kontrovers erörtert. Nach dem Entwurf soll eine Wiederaufnahme auch dann möglich sein, wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt.

Neue Tatsachen und Beweismittel nach geltendem Recht kein Wiederaufnahmegrund

Wie es in der Gesetzesvorlage heißt, sind nach derzeitiger Rechtslage im Gegensatz zur Wiederaufnahme zu Gunsten eines Verurteilten neue Tatsachen und Beweismittel als allgemeiner Wiederaufnahmegrund nicht zugelassen. Dies führe zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass selbst bei den schwersten Straftaten wie Mord und Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein in einem Freispruch geendetes Verfahren selbst dann nicht wieder aufgenommen werden kann, wenn nachträglich Beweismittel einen eindeutigen Nachweis der Täterschaft erlauben. Nach geltendem Recht bleibe es, sofern der Freigesprochene kein Geständnis ablege, bei dem rechtskräftigen Freispruch. Anlass zur Reform war der Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann.

Opferschutzbeauftragte hält Durchbrechung des Grundsatzes "ne-bis-in-idem" für gerechtfertigt

Die Beauftragte für den Opferschutz des Landes Nordrhein-Westfalen, Elisabeth Auchter-Mainz, sprach in ihrer Stellungnahme von ungesühnten Fällen aus ihrer Praxis, an denen beispielsweise Eltern zerbrochen seien und sich von der Justiz im Stich gelassen fühlten. Der "ne-bis-in-idem"-Grundsatz des Art. 103 Abs. 3 GG, wonach niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf, habe einen hohen Wert, gelte aber nicht ausnahmslos. Frühere Durchbrechungen des Grundsatzes seien nie infrage gestellt worden.

Gesetzentwurf betrifft nur unverjährbare Delikte

Rechtsanwalt Wolfram Schädler, der den Vater der ermordeten Frederike von Möhlmann vertritt, betonte, dass der Staat in einem Rechtsstaat nicht Urteile austauschen dürfe, die ihm missliebig seien. Der Gesetzentwurf respektiere diese Grenzsetzung aber, da sein Anwendungsbereich auf die unverjährbaren Delikte Mord und Völkermord beschränkt sei. Er führe diesen Rechtsgedanken so zu Ende, dass ein falsch freigesprochener Mörder sich niemals seines Triumphes über die Fakten sicher sein könne. Der vorliegende Gesetzentwurf korrigiere die aus dem Lot geratene Rechtswirksamkeit des § 362 StPO wenigstens teilweise.

Grenzkorrektur aus Unerträglichkeitsgründen geboten

Auch aus Sicht von Jörg Eisele von der Eberhard Karls Universität Tübingen ist der Gesetzentwurf mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entspreche auch der Sichtweise fast aller wissenschaftlichen Abhandlungen aus jüngerer Zeit. Eisele verwies ebenfalls auf bestehende Durchbrechungen des Grundsatzes "ne bis in idem". Eine Grenzkorrektur aus Unerträglichkeitsgründen sei geboten, wenn bei den schwersten Straftaten trotz vorliegender Beweismittel eine Verurteilung nicht möglich sei. Dies erschüttere das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung. Eingedenk der Unverjährbarkeit der Delikte sei eine Wiederaufnahme dann auch bei "Altfällen" möglich.

Kein Paradigmenwechsel

Michael Kubiciel von der Universität Augsburg erklärte, der Gesetzentwurf greife eine seit fast zwei Jahrzehnten geführte rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Debatte auf und sei das Ergebnis intensiver strafprozessualer und verfassungsrechtlicher Prüfungen. Die Erweiterung der Strafprozessordnung stelle keinen Paradigmenwechsel dar, sondern schreibe einen im geltenden Recht angelegten Grundgedanken für einen klar und eng gefassten Anwendungsfall fort. Dem Gesetzentwurf lasse sich auch nicht entgegenhalten, er lege den Grundstein für weitere Durchbrechungen der Rechtskraft durch künftige Gesetzesnovellierungen.

Experte der Freien Universität Berlin sieht Entwurf kritisch

Dagegen ist der Entwurf für Helmut Aust von der Freien Universität Berlin verfassungswidrig. Die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe stehe im Widerspruch zum Verbot der Doppelverfolgung nach Art. 103 GG. Die dort auf Verfassungsebene vorgenommene Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit könne nicht durch einen Rückgriff auf allgemeine Erwägungen des letzteren Gesichtspunkts wieder aufgelöst werden. Neben dem Verstoß gegen Art. 103 GG würde die vorgeschlagene Regelung bei einer Anwendung auf sogenannte "Altfälle" zudem gegen das vom Rechtsstaatsprinzip umfasste Verbot der Rückwirkung verstoßen, so Aust weiter.

DAV hat verfassungsrechtliche Bedenken

Auch für Stefan Conen vom Deutschen Anwaltverein ist das Vorhaben der Koalitionsfraktionen aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen. Bereits 2009 sei ein ähnliches Gesetzesvorhaben gescheitert. 2016 hätten sich die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages erneut der Frage der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit eines solchen neuen Wiederaufnahmegrundes gewidmet und seien zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wertentscheidung des Verfassungsgebers des Grundgesetzes der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten Freigesprochener entgegenstehe. Dies sei nach wie vor richtig und bei dogmatisch stringenter Auslegung des Artikels gerade auch in Ansehung des nunmehr über den damaligen Vorschlag weit hinausgehenden Entwurf zwingend.

Gesellschaft für Freiheitsrechte: "Kein gutes Zeichen für den Rechtsstaat"

Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, sagte, die Wiederaufnahme-Debatte sei kein gutes Zeichen für den Rechtsstaat. Es werde versucht, einen klaren Normbefehl der Verfassung zu relativieren und zu umgehen. Der Gesetzentwurf bedeute einen doppelten Bruch mit demokratischen Werten. Zum einen gehe es an den Kern des "ne bis in idem", und zum anderen gehe es auch darum, ob der Gesetzgeber noch bereit ist, die klaren Grenzen der Verfassung einzuhalten. Nur selten sei ein Verstoß gegen das Grundgesetz so klar wie hier.

Redaktion beck-aktuell, 22. Juni 2021.