Ein Medium berichtet wahrheitsgemäß über den Erlass eines Haftbefehls gegen einen Geschäftsführer, doch nach der Berichterstattung wird der Haftbefehl aufgehoben. Trifft das Medium nun eine Pflicht, den ursprünglich rechtmäßigen, aber zwischenzeitlich überholten online zugänglichen Artikel hinsichtlich der veränderten Sachlage zu aktualisieren? Das LG Berlin II hat dies bejaht und dem Geschäftsführer einen Unterlassungsanspruch gegen den unvollständig gewordenen Artikel zugesprochen.
Damit liegt eine weitere Gerichtsentscheidung (zuletzt auch OLG Köln, Beschluss vom 06.03.2023 – 15 U 190/22) vor, wonach Medien nachträgliche Entwicklungen bei online bereitgehaltenen Dauerpublikationen berücksichtigen müssen. Die aktuelle Entscheidung des LG Berlin II (Urteil vom 17.06.2025 – 27 O 165/25) bietet Anlass, die Voraussetzungen für eine reaktive Prüfpflicht herauszuarbeiten. Über diesen Fall hinausgedacht, ergeben sich nach meiner Auffassung Konsequenzen für den sehr praxisrelevanten Bereich der Verdachtsberichterstattung.
Dauerhaft zugänglich – dauerhaft aktuell
Das LG Berlin hat drei Voraussetzungen für eine entsprechende reaktive Prüfpflicht genannt:
Zunächst muss es sich um eine dauerhaft online zugängliche Berichterstattung, eine sogenannte Dauerpublikation, handeln. Die reaktive Prüf- und gegebenenfalls Aktualisierungspflicht bezieht sich dagegen nicht auf Veröffentlichungen in Printmedien. Eine physische Korrektur wäre hier denklogisch nicht möglich und eine Zeitung deshalb neu zu drucken wäre unverhältnismäßig. In Bezug auf Online-Dauerpublikationen hat das LG Berlin II dagegen einen vertieften Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen angenommen, da die Berichte ständig verfügbar bleiben.
Hierdurch könne zudem der Eindruck einer tagesaktuellen Berichterstattung entstehen – anders gegebenenfalls bei klar gekennzeichneten Archivbeiträgen – weshalb es gerechtfertigt und geboten sei, den Medien eine Pflicht zur Anpassung einer solchen Berichterstattung bei nachträglichen Entwicklungen aufzuerlegen. Zudem handele es sich bei der dauerhaften Online-Abrufbarkeit über die Erstveröffentlichung hinaus um ein im Wesentlichen unternehmerisches Interesse der Medien.
Was unvollständig ist, ist unwahr
Als weitere Voraussetzung muss es sich um eine ursprünglich rechtmäßige Erstpublikation handeln, die sich erst durch nachträgliche Entwicklungen als unwahr oder unvollständig erweist. In dem vom LG Berlin II zu beurteilenden Fall war die Berichterstattung im Ausgangspunkt wahr, weil gegen den Geschäftsführer tatsächlich ein Vollstreckungshaftbefehl erlassen worden war. Dass dieser Haftbefehl später aufgehoben wurde, macht die ursprüngliche Tatsachenbehauptung nicht falsch, wenn man auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung abstellt. Da mit der Aufhebung des Haftbefehls später aber neue Tatsachen hinzugetreten sind, wurde der weiterhin unverändert online verfügbare Bericht unvollständig. Eine bewusst unvollständige Berichterstattung wird rechtlich wiederum wie eine unwahre Tatsachenbehauptung behandelt, wenn deshalb bei Leserinnen und Lesern ein falscher Eindruck entstehen kann. Davon kann man ausgehen, wenn über einen Haftbefehl berichtet wird, ohne zugleich darauf hinzuweisen, dass dieser später aufgehoben wurde.
Um den Eingriff in die Mediengrundrechte möglichst gering zu halten, wird den Medien keine proaktive Prüfpflicht in Bezug auf einmal veröffentlichte Artikel auferlegt. Vielmehr müssen sie lediglich bei einem – das ist eine weitere Anforderung – substantiierten Hinweis auf eine nachträglich entstandene Persönlichkeitsrechtsverletzung eine Anpassung der Berichterstattung vornehmen.
Diese Voraussetzungen lagen in dem Fall vor, weil der Betroffene auf die nachträgliche Entwicklung (Aufhebung des Haftbefehls) hingewiesen und eine Anpassung der Berichterstattung gefordert hatte. Da das Medium dem nicht nachgekommen war, wurde die Berichterstattung bewusst unvollständig. Der hiergegen gerichtete Unterlassungsanspruch war somit begründet und konnte im einstweiligen Verfügungsverfahren durchgesetzt werden.
Konsequenzen reaktiver Prüfpflichten für den Bereich der Verdachtsberichterstattung
Die sich gerade etablierende neue presserechtliche Kategorie der reaktiven Prüfpflicht hat aus meiner Sicht weitreichende Auswirkungen auch auf den Bereich der Verdachtsberichterstattung.
Die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung gelten immer dann, wenn es um ungeklärte Vorwürfe geht, die geeignet sind, das Ansehen des von der Berichterstattung Betroffenen in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Ein praxisrelevanter Bereich ist die Berichterstattung über Strafverfahren. Eine – und die zugleich am schwierigsten zu handhabende – Voraussetzung für eine Verdachtsberichterstattung ist der sogenannte Mindestbestand an Beweistatsachen. Es müssen danach hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Verdacht begründen. Diese Anhaltspunkte können zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung vorliegen.
Im weiteren Verlauf eines Strafverfahrens kann es dann aber sein, dass überwiegend entlastende Umstände zu Tage treten und das Ermittlungsverfahren mangels Tatverdachts eingestellt oder der oder die Angeklagte freigesprochen wird. Haben Medien über den Verdacht bzw. das Strafverfahren berichtet, stellt sich somit die Frage, ob die nachträglich geänderte Lage Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen und weiterhin nachlesbaren Berichterstattung hat. Nach der hier thematisierten Rechtsprechung zu den reaktiven Prüfpflichten wird man davon ausgehen müssen.
Neue Rechtsschutzmöglichkeiten für Betroffene
Nach der neuen Rechtsprechung zu den reaktiven Prüfpflichten müssen Medien nachträgliche Entwicklungen in Bezug auf weiterhin verfügbare Online-Artikel berücksichtigen. Auf Hinweis von Betroffenen müssen sie demnach auch den erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen für eine Verdachtsberichterstattung später noch einmal neu überprüfen. Wird ein Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt oder die betroffene Person freigesprochen, stehen dem ursprünglich berichteten Verdacht nunmehr die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts – beides sogenannte privilegierte Quellen, denen ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden kann – entgegen.
Dann wird man in der Regel nicht mehr von einer hinreichenden Grundlage für den Verdacht ausgehen können, sodass das rechtfertigende Element für eine Berichterstattung und den hiermit einhergehenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen entfällt. Der alte Bericht darf dann nicht mehr unverändert online bleiben. Aus dogmatischen Gründen kann die Berichterstattung auch nicht durch eine Ergänzung hinsichtlich der Verfahrenseinstellung "gerettet" werden, weil allein die Mitteilung des Vorwurfs die Gefahr birgt, dass hiervon etwas "hängen bleibt".
Bisherige Tendenzen in der Rechtsprechung, wonach die ursprüngliche Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung das zentrale Argument für die Rechtmäßigkeit der fortdauernden Abrufbarkeit auch bei einer späteren Verfahrenseinstellung ist, sind mit der Etablierung einer reaktiven Prüfpflicht für Medien nicht in Einklang zu bringen. Nach meiner Auffassung haben Betroffene somit nun neue Möglichkeiten, um rechtlich gegen überholte Verdachtsberichte vorzugehen und diese sogar ganz zu unterbinden. Die Anwendung der reaktiven Prüfpflicht auf den Bereich der Verdachtsberichterstattung wird die Pressekammern der Landgerichte somit sicher bald beschäftigen.
Dr. Jörn Claßen ist Rechtsanwalt und Partner der Kölner Medienkanzlei Brost Claßen (www.brostclassen.de), die auf den presserechtlichen Schutz von Unternehmen und Personen spezialisiert ist.