Plakate mit Zeichen kurdischer Miliz im Bereich der Fenster angebracht
Erdogan hatte sich am 29.09.2018 in Berlin aufgehalten. Anlässlich seines Staatsbesuchs waren Straßen im Regierungsviertel gesperrt worden. Innerhalb des gesperrten Gebiets befand sich auch das Gebäude mit dem Büro des Antragstellers. Im Bereich der Fenster seiner Räume, die zum abgesperrten Straßenbereich gerichtet waren, hingen auf DIN A4-Papier gedruckte Abbildungen von Zeichen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Syrien.
Polizei betrat Abgeordnetenbüro und entfernte Plakate
Beamte der Polizei beim Deutschen Bundestag stellten diese Plakatierungen anlässlich eines Kontrollgangs fest, als die Straßensperrungen im Bereich des Gebäudes bereits wieder aufgehoben waren. Der Antragsteller hielt sich zu diesem Zeitpunkt nicht in seinen Abgeordnetenräumen auf. Versuche, ihn telefonisch oder auf anderem Wege zu erreichen, unternahm die Polizei nicht. Die Beamten betraten die Abgeordnetenräume und nahmen die Plakatierungen ab. Der Antragsteller begehrt die Feststellung, dass er durch das Betreten und das Durchsuchen seiner Abgeordnetenräume in seinen verfassungsmäßigen Rechten als Abgeordneter verletzt worden sei.
BVerfG bejaht Eingriff in Abgeordnetenstatus
Das BVerfG hat entschieden, dass das Handeln der Polizei beim Deutschen Bundestag einen Eingriff in den verfassungsrechtlich geschützten Abgeordnetenstatus darstellt. Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages stehe aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Recht zu, die ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten ohne Beeinträchtigungen durch Dritte nutzen zu können. Die effektive Wahrnehmung des Mandats setze in materieller Hinsicht voraus, dass die Abgeordneten eine gewisse Infrastruktur nutzen können, ohne eine unberechtigte Wahrnehmung ihrer Arbeit durch Dritte befürchten zu müssen.
Eingriff kann gerechtfertigt sein
Andernfalls bestünde von vornherein die latente Gefahr, dass Arbeitsentwürfe und Kommunikationsmaterial im Zuge entsprechender Maßnahmen wahrgenommen werden und nach außen dringen. Die Freiheit des Mandats erfordere es jedoch, dass der Abgeordnete über Art, Zeitpunkt und Umfang der Veröffentlichung seiner Arbeitsinhalte selbst entscheidet. Ein Eingriff in den durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Abgeordnetenstatus sei zulässig, wenn und soweit andere Rechtsgüter von Verfassungsrang ihn rechtfertigten. Die Repräsentations- und die Funktionsfähigkeit des Parlaments seien als solche Rechtsgüter von Verfassungsrang anerkannt.
Anforderungen an zulässigen Eingriff nicht erfüllt
Die streitgegenständliche Maßnahme habe den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Eingriff in das freie Mandat des Antragstellers nicht genügt, so das BVerfG weiter. Dabei könne offenbleiben, ob Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG selbst eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für ein polizeiliches Handeln des Antragsgegners darstelle oder ob es insoweit eines formellen Gesetzes bedurft hätte. Jedenfalls habe die streitgegenständliche Maßnahme nicht den Anforderungen des Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG genügt. Selbst dann, wenn Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG als eine taugliche Ermächtigungsgrundlage angesehen würde, müsste das polizeiliche Handeln den Anforderungen der Dienstanweisung für den Polizeivollzugsdienst der Polizei beim Deutschen Bundestag (DA-PVD) genügen, die eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift ist. Das sei hier nicht der Fall.
Maßnahme war unverhältnismäßig
Die Zulässigkeit des Betretens von Abgeordnetenräumen bestimme sich nach § 23 DA-PVD, der der Polizei beim Deutschen Bundestag das Betreten eines Raums zur Abwehr einer Gefahr gestattet. Zwar mögen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sein. Jedenfalls genüge die streitgegenständliche Maßnahme aber nicht den allgemeinen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit, die auch für ein polizeiliches Handeln des Bundestagspräsidenten gegenüber einem Abgeordneten gelten, betont das BVerfG. Hier fehle es an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im engeren Sinne.
Eingriff wiegt schwer
Der Eingriff wiege schwer. Auf Seiten des Antragstellers seien dessen Statusrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG betroffen, die ein hochrangiges Rechtsgut darstellten. Das freie Mandat sichere gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die freie Willensbildung der Abgeordneten und damit eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen den Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Es diene auch dazu, die Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages insgesamt zu gewährleisten. Die Absicht, die Funktionsfähigkeit des Bundestages durch die Abwehr äußerer Gefahren zu sichern, wiege nicht schwerer als die Sicherung der Funktionsfähigkeit durch die Gewährleistung der Integrität der Abgeordnetenbüros.
Allenfalls schwache Anhaltspunkte für Gefahrenlage
Darüber hinaus seien die Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage nur schwach ausgeprägt gewesen, fährt das BVerfG fort. Zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme sei nicht ersichtlich gewesen, dass Passanten die Plakatierungen bereits wahrgenommen hatten. Die Polizei beim Deutschen Bundestag habe keinen ersichtlichen Anhaltspunkt gehabt anzunehmen, dass jemand bereits im Begriff war, Handlungen zum Nachteil des Parlamentsgebäudes oder der Parlamentsmitarbeiter vorzunehmen. Unabhängig davon sei das Provokationspotential gering gewesen, denn die Plakatierungen seien wegen ihres Formats nur eingeschränkt wahrnehmbar gewesen. Das Format habe sich, bezogen auf die Außenfassade eines Bürokomplexes, als äußerst kleinformatig dargestellt. Außerdem habe eine gewisse räumliche Distanz zu den Passanten bestanden.