Supreme Court könnte US-Abtreibungsrecht kippen

Der oberste US-Gerichtshof tendiert laut dem US-Magazin "Politico" offenbar dazu, sein Grundsatzurteil zu Abtreibungen von 1973 zu kippen. Das Magazin bezieht sich auf einen Entwurf der Urteilsbegründung, der laut dem Bericht im Gericht kursiert und dem Magazin vorliegt. Darin bezeichne der Supreme-Court-Richter Samuel Alito die bisherige Rechtsprechung, die als Roe v. Wade bekannt ist, als "von Anfang an falsch".

Entscheidung würde Weg für strengere Abtreibungsgesetze freimachen

Das von "Politico" am Montag veröffentlichte Dokument ist auf den 10.02.2022 datiert. Unbekannt ist, ob sich der Entwurf seither verändert hat oder es weitere Entwürfe gab. "Wir denken, dass Roe und Casey zurückgewiesen werden müssen", schreibt Alito in dem Dokument, das die Meinung der Mehrheit der Richter wiedergeben soll. Kippt der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court die Rechtsprechung, wäre der Weg endgültig frei für schärfere Abtreibungsgesetze bis hin zu kompletten Verboten in den einzelnen US-Bundesstaaten. Es komme aber vor, dass Richter ihre Meinung ändern, während Papiere im Gericht kursieren und Kontroversen fortgeführt werden, schreibt "Politico". Das Magazin rechnet mit einer endgültigen Entscheidung des Gerichts in den nächsten zwei Monaten.

Regelverschärfungen bislang vom Supreme Court gekippt

Mehrere konservativ regierte Bundesstaaten haben ihre Regeln zu Schwangerschaftsabbrüchen bereits deutlich verschärft, mussten aber bisher fürchten, dass die Gesetze vom Supreme Court kassiert werden, weil sie gegen das Grundsatzurteil "Roe v. Wade" verstoßen. Dieses regelt die Möglichkeit, Schwangerschaften bis zur Lebensfähigkeit des Fötus abzubrechen - heute etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche. Ein weiteres Urteil von 1992, das "Planned Parenthood v. Casey"-Urteil, bestärkte die vergleichsweise liberale Rechtsprechung.

Drei von Trump ernannte Richter könnten entscheidend sein

Der Entwurf wird "Politico" zufolge neben Alito von vier weiteren Richtern unterstützt. Darunter sind die drei vom ehemaligen Präsidenten Donald Trump ernannten Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Das Gericht bestätigte zwar die Authentizität des Entwurfs, betonte aber, dass es sich weder um die finale Entscheidung noch um die endgültige Position eines Richters handele. Es sei eine Untersuchung eingeleitet worden - die Veröffentlichung sei ein "Vertrauensbruch", hieß es. Unter Trump ist der Supreme Court deutlich nach rechts gerückt. Schon bei einer Anhörung Ende vergangenen Jahres deutete sich an, dass das Gericht das Abtreibungsrecht massiv beschneiden könnte.

Konservative Staaten der USA bereits in den Startlöchern

Doch warum beschäftigt sich das Gericht überhaupt mit dem Thema? Hintergrund ist ein Abtreibungsgesetz aus dem Bundesstaat Mississippi, das fast alle Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Der konservativ regierte Bundesstaat hatte das Oberste Gericht angerufen, den Fall zu überprüfen. Dass sich das Gericht überhaupt mit dem Fall beschäftigt, war bereits als Zeichen gewertet worden, dass Roe v. Wade kippen könnte. Der Entwurf sieht nun vor, es den Bundesstaaten zu überlassen, wie sie ihr Abtreibungsrecht regeln. Einige Staaten haben bereits Gesetze vorbereitet, die sofort in Kraft treten könnten. Es sind vor allem die erzkonservativen Staaten im Süden und mittleren Westen, die Abtreibung ganz oder fast komplett verbieten wollen. Liberale Staaten wie New York oder Kalifornien haben hingegen Gesetze, die das Recht auf Abtreibung ausdrücklich schützen. Für Schwangere würde dies zur Folge haben, Hunderte oder gar Tausende Meilen reisen zu müssen, um eine Abtreibungsklinik zu erreichen. Viele können sich das nicht leisten. Beobachterinnen und Beobachter fürchten, dass vermehrt Frauen versuchen könnten, selbst eine Abtreibung vorzunehmen.

Demokraten kündigen Gegenwehr an

US-Präsident Joe Biden hat mit Blick auf die Veröffentlichung des Entwurfs Gegenwehr angekündigt. Es brauche ein landesweites Gesetz, welches das Recht auf Abtreibung schütze, erklärte er. Er wolle sich dafür einsetzen, dass ein solches Gesetz "verabschiedet und unterzeichnet" werde. So einfach ist das allerdings nicht. Mit den aktuellen Mehrheiten im Senat können Bidens Demokraten ein solches Gesetz nicht ohne Weiteres durchbringen. Sollten die Demokraten bei den Kongresswahlen im November ihre sowieso schon knappe Mehrheit verlieren, könnten auch die Republikaner versuchen, Abtreibungen landesweit per Gesetz zu beschränken. Es handle sich um die größte Einschränkung der Rechte in den letzten fünfzig Jahren - nicht nur für Frauen, sondern für alle Amerikaner, erklärten die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer. Die Gouverneurin des Bundesstaates New York, Kathy Hochul, erklärte, dass sie das Recht auf Abtreibung schützen werde. "Abtreibung wird in New York immer sicher und zugänglich sein." Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom kündigte an, das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in der Landesverfassung festschreiben zu wollen. Vor dem Supreme Court in Washington kam es zu Protesten.

Ungewöhnliches Leak

Leaks zu Entscheidungen des Supreme Court gab es auch in der Vergangenheit immer mal wieder. Höchst ungewöhnlich ist aber, dass der komplette Entwurf einer Urteilsbegründung veröffentlicht wird. "Die undichte Stelle könnte als Kalkül gesehen werden, um das Gericht dazu zu bewegen, sich in eine andere Richtung zu bewegen", kommentierte die "Washington Post". Republikanische Politikerinnen und Politiker begrüßten die Stoßrichtung des Entwurfs, verurteilten aber die Veröffentlichung.

Gitta Kharraz, Redaktion beck-aktuell, 3. Mai 2022 (dpa).