Polens Disziplinarordnung für Richter verstößt gegen EU-Recht

Die polnischen Rechtsvorschriften über die Disziplinarordnung für Richter verstoßen gegen das Unionsrecht. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Die 2018 eingerichtete Disziplinarkammer am Obersten Gericht des Landes biete nicht alle Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, so der EuGH. Sie sei insbesondere nicht unempfänglich für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die polnische Legislative und Exekutive.

EU-Kommission klagte und bekam in allen Punkten Recht

Die Europäische Kommission hatte beim EuGH auf Feststellung geklagt, dass Polen durch den Erlass der neuen Disziplinarordnung für Richter seines Obersten Gerichts und der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat. Der EuGH hat allen Rügen der Kommission stattgegeben und festgestellt, dass Polen gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat.

Gefahr der Einflussnahme auf Disziplinarkammer

In Anbetracht des Gesamtkontexts der jüngsten umfassenden Justizreformen in Polen, zu dem die Schaffung der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts gehöre, und aufgrund einer Kombination von Faktoren im Zusammenhang mit der Einrichtung dieser neuen Kammer biete diese nicht alle Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Sie sei insbesondere nicht unempfänglich für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die polnische Legislative und Exekutive. Zu diesen Faktoren gehören laut EuGH unter anderem der Umstand, dass das Verfahren zur Ernennung der Richter am Obersten Gericht, einschließlich der Mitglieder der Disziplinarkammer, wesentlich durch ein Organ bestimmt werde (Landesjustizrat]), das von der polnischen Exekutive und Legislative wesentlich umgebildet worden sei und dessen Unabhängigkeit zu berechtigten Zweifeln Anlass geben könne. Zudem solle die Disziplinarkammer ausschließlich aus neuen Richtern bestehen, die dem Obersten Gericht nicht bereits angehört haben und im Vergleich zu den Bedingungen in den anderen Kammern dieses Gerichts zum Beispiel eine sehr hohe Vergütung erhalten und über besonders weitgehende organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie verfügen.

Politische Kontrolle von Gerichtsentscheidungen möglich

Der EuGH beanstandet weiter, dass die Disziplinarordnung es zulasse, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit als Disziplinarvergehen eingestuft werden kann. Sie könnte daher zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden, um ihre Entscheidungen zu beeinflussen und die Unabhängigkeit der betreffenden Gerichte zu beeinträchtigen.

Verteidigungsrechte beschuldigter Richter nicht gewährleistet

Auch habe Polen nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb angemessener Frist entschieden werden, und habe nicht sichergestellt, dass die Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter geachtet werden. Damit habe es ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt.

Disziplinarverfahren bei Anrufung des EuGH zu befürchten

Zu beanstanden sei schließlich, dass die nationalen Richter Disziplinarverfahren ausgesetzt seien, wenn sie sich dafür entschieden haben, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Dadurch werde ihr Recht und gegebenenfalls ihre Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs und das System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beeinträchtigt, das durch die Verträge geschaffen worden sei, um die einheitliche Auslegung und die volle Geltung des Unionsrechts zu gewährleisten.

EuGH, Urteil vom 15.07.2021 - C-791/19

Redaktion beck-aktuell, 15. Juli 2021.