In Polen haben Richter und der Beauftragte für Menschenrechte ein Urteil der umstrittenen Disziplinarkammer des Obersten Gerichts kritisiert. Die Kammer hatte am 12.10.2020 entschieden, die Immunität der Krakauer Richterin Beata Morawiec aufzuheben, sie von ihrem Dienst zu suspendieren und ihre Bezüge um die Hälfte zu streichen. Regierungskritische Richter und Verbände sehen in dem Urteil einen Versuch von Justizminister Zbigniew Ziobro, der auch Generalstaatsanwalt ist, Richter einzuschüchtern.
Immunität kritischer Krakauer Richterin Barbara Morawiec aufgehoben
Das Gericht urteilte, es sei “sehr wahrscheinlich“, dass Morawiec Korruptionsdelikte begangen habe, wie es die Staatsanwaltschaft ihr vorwerfe. Morawiec bestreitet die Vorwürfe. In Polen genießen Richter und Staatsanwälte Immunität. Eine strafrechtliche Verfolgung ist nur möglich, wenn die Immunität zuvor gerichtlich aufgehoben wurde. Morawiec ist die Vorsitzende der Richterorganisation “Themis“, die die Reformen des polnischen Justizsystems durch die nationalkonservative Regierungspartei PiS immer wieder gerügt hat.
Menschenrechtsbeauftragter empfiehlt Klage vor dem EGMR
Der Schritt sei ein Versuch, “eine Richterin auszuschalten, die für die Rechtsstaatlichkeit kämpft, und einen Effekt der Einschüchterung für andere Richter zu erzielen“, sagte der Warschauer Bezirksrichter Igar Tuleya, den selbst in diesem Monat ein ähnliches Verfahren erwartet. Tuleya erinnerte daran, dass der Europäische Gerichtshof Polen aufgefordert habe, die Verfahren der Disziplinarkammer auszusetzen, bis geklärt ist, ob die Kammer ausreichend unabhängig von der Justiz ist. Polens Beauftragter für Menschenrechte, Adam Bodnar, empfahl Morawiec, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen.
Redaktion beck-aktuell, 13. Oktober 2020 (dpa).
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Leppich, Justizkrise in Polen verschärft sich, DRiZ 2017, 270
Niezgódka, Justizreform in Polen: Angriff der Exekutive auf die Justiz, NJ 2017, 360
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