Verletzter trägt Beweislast bei Schusswaffengebrauch der Polizei

Wer durch einen von einem Polizisten abgegebenen Schuss verletzt wird, muss in Fällen, in denen die Polizei zur Ausübung unmittelbaren Zwangs berechtigt war, beweisen, dass die Polizei den Schuss nicht hätte abgeben dürfen. Das hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht mit einem am Donnerstag ergangenen Urteil entschieden. Im konkreten Fall sei auf dieser Grundlage kein Verstoß gegen das "Übermaßverbot" festzustellen.

Nachbarn und Passanten beschimpft

Der Kläger wurde im März 2013 in seiner Wohnung in Kiel durch den Schuss einer Polizistin verletzt. Er nimmt das beklagte Land auf Schadensersatz wegen einer Amtspflichtverletzung in Anspruch. Der Kläger hatte unter Einfluss von Medikamenten und Betäubungsmitteln aus dem Fenster seiner Wohnung heraus Nachbarn und Passanten beschimpft. Diese riefen die Polizei und wiesen darauf hin, dass der Kläger eine Waffe habe. Zwei der herbeigeeilten Polizisten hielten den Kläger auf dem Hausflur fest, während ein Polizist und eine Polizistin seine Wohnung betraten. Sie entdeckten dort mehrere Waffen, unter anderem eine Armbrust mit passender Munition und eine Pistole. Der Pistole war nicht ohne Weiteres anzusehen, dass sie nur zum Verschießen von Kunststoffkugeln geeignet war. Kurze Zeit später konnte sich der Kläger im Hausflur losreißen, in die Wohnung zurücklaufen und dort ein Messer ergreifen. Einer der Polizisten im Hausflur rief daraufhin in die Wohnung hinein: "Er hat eine Waffe, weg, weg, weg!". Dem Polizisten in der Wohnung gelang es noch, aus der Wohnung zu fliehen, bevor der Kläger die Wohnungstür von innen verriegelte.

Einzelheiten des Geschehens streitig

Die Polizistin, die sich noch in der Wohnung aufhielt, floh in das Badezimmer und zog ihre Dienstwaffe. Nachdem der Kläger gerufen hatte, er werde alle umbringen, lief er den Wohnungsflur entlang in Richtung Wohnzimmer. Die Polizistin, die sich im Bad aufhielt, gab einen Schuss auf den Kläger ab, der ihn seitlich links im mittigen Bauchbereich traf. Die Einzelheiten des Geschehens rund um die Schussabgabe sind zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptet, er sei im Zeitpunkt des Schusses an der geöffneten Badezimmertür vorbei in Richtung Wohnzimmer gelaufen, sodass die Polizistin nicht in Notwehr gehandelt habe. Das beklagte Land behauptet demgegenüber, der Kläger sei auf seinem Weg in Richtung Wohnzimmer in das Badezimmer abgebogen und dort mit gezücktem Messer auf die Polizistin zugelaufen, bevor diese geschossen habe.

OLG verneint Amtshaftungsanspruch gegen das beklagte Land

In erster Instanz vor dem Landgericht Kiel konnte nicht festgestellt werden, ob die Schilderung des Klägers oder vielmehr die Schilderung des beklagten Landes zutrifft. Das LG hat das beklagte Land daraufhin unter anderem zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 22.500 Euro verurteilt. Es hat angenommen, dass die Beweislast für das Bestehen einer Notwehrlage beim beklagten Land liege, weil die Polizistin eine Körperverletzung begangen habe. Da nicht festgestellt werden konnte, dass sich der Kläger tatsächlich unmittelbar vor dem Schuss auf die Polizistin zubewegt habe, stehe auch nicht fest, dass eine Notwehrlage vorgelegen habe. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Die Berufung des beklagten Landes hatte jetzt Erfolg, das OLG hat die Klage vollständig abgewiesen. Dem Kläger stehe kein Amtshaftungsanspruch gegen das beklagte Land zu. Der Umstand, dass nicht festgestellt werden kann, ob die Schilderung des Klägers oder vielmehr die Schilderung des beklagten Landes zur Abgabe des Schusses zutrifft, wirke sich nicht zu Lasten des beklagten Landes, sondern vielmehr zu Lasten des Klägers aus.

Kein Verstoß gegen "Übermaßverbot"

Die Polizistin hatte nach Ansicht des Gerichts im Zeitpunkt der Abgabe des Schusses allen Grund zu der Befürchtung, dass der Kläger, der gedroht hatte, sie und ihre Kollegen umzubringen, eine seiner Schusswaffen erreicht haben würde, bevor sie ihre eigene Schusswaffe abermals auf den Kläger würde richten können. Sie sei deshalb zur Ausübung unmittelbaren Zwangs und damit zu einem Eingriff in die Rechte des Klägers berechtigt gewesen. Bei dieser Sachlage müsse aber der Kläger beweisen, dass die Polizistin den Schuss nicht hätte abgeben dürfen. Diesen Beweis habe der Kläger nicht geführt. Es sei nämlich nicht auszuschließen, dass im Badezimmer ein konkreter Angriff des Klägers auf die Polizistin drohte. Sollte das aber der Fall gewesen sein, dann war der Schuss der Polizistin gerechtfertigt und auch ohne vorherige Warnung zulässig und deshalb nicht amtspflichtwidrig. Nach der Ankündigung des Klägers, alle umzubringen, sei der sofortige Schuss erforderlich gewesen, um ihn angriffsunfähig zu machen und so einen Angriff von ihr abzuwenden. Auf dieser Grundlage sei der Polizistin kein Verstoß gegen das "Übermaßverbot" vorzuwerfen.

OLG Schleswig, Urteil vom 11.11.2021 - 11 U 92/20

Redaktion beck-aktuell, 12. November 2021.