Obwohl die Rechtsprechung sich im Jahr 2015 geändert habe, hätten die jetzt verklagten Anwälte ihrer Mandantschaft damals nicht empfohlen, die aussichtslos gewordene Klage zurückzunehmen. So begründete jetzt auch das OLG Jena in zweiter Instanz, warum es der Regressklage einer Rechtsschutzversicherung wegen unnötiger Prozesskosten gegen die früheren Prozessbevollmächtigten stattgab.
Das OLG Jena (Urteil vom 26.01.2024 – 9 U 364/18) erklärte detailliert, warum die Spezialisten für Kapitalanlagerecht ihre Mandanten bereits 2015 hätten informieren müssen, dass ihre Ansprüche verjährt waren. Seit einer Entscheidung des BGH vom 18. Juni 2015 sei klar gewesen, dass nicht hinreichend individualisierte Mustergüteanträge nicht ausreichen, um die Verjährung zu hemmen. Einen solchen Antrag hatten die Anwälte 2011 gestellt, um in der Kapitalanlagesache mehr Zeit zu gewinnen. 2013 reichten sie dann Klage ein. Das Landgericht hatte die mündliche Verhandlung für den 11. Juli 2016 angesetzt.
Die Jenaer Richterinnen und Richter rechneten den Bevollmächtigten vor, dass sie lange vor diesem Verhandlungstermin im Sommer 2016 die geänderte Rechtsprechung hätten kennen müssen. Anwälte müssten sich "zeitnah" auf Veränderungen einstellen und aus Fachzeitschriften und amtlichen Sammlungen informieren, so der Senat. Noch in einer Entscheidung von 2010 habe der BGH bewusst offengelassen, ob die Anforderungen durch die fortschreitende Digitalisierung gestiegen seien.
Schon 2015: Spezialisierter Anwalt muss Leitsatzentscheidungen kennen – mindestens
Der 9. Senat des OLG fordert jetzt, dass ein auf Kapitalanlagerecht spezialisierter Anwalt auch die online frei verfügbare Entscheidungsdatenbank des BGH nutzen muss. Jedenfalls die für seine Rechtsgebiete relevanten Leitsatzentscheidungen müssten gesichtet werden – bei einer engen Spezialisierung gegebenenfalls auch die weiteren Entscheidungen des zuständigen BGH-Senats.
Der BGH habe nach eigenen Angaben das Urteil am 6. Juli 2015 hochgeladen. In der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW, Transparenzhinweis der Redaktion: ein direktes Schwesterprodukt von beck-aktuell) sei es einen Monat später, am 13. August 2015, veröffentlicht worden. Das Gericht verlangte nicht, dass die Anwälte die Entscheidung direkt danach hätten kennen müssen. Spätestens am 30. September 2015, also weitere anderthalb Monate später, hätten sie das Urteil nach Ansicht des OLG Jena aber präsent haben müssen.
Vereinzelte kritische Literaturstimmen zu dem Urteil des BGH (so auch von einem BGH-Anwalt, der in einem Parallelverfahren tätig geworden war) hätten keinen Anlass gegeben, auf einen erneuten Kurswechsel der Karlsruher Richterinnen und Richter zu hoffen, so der Senat. Auch den Einwand, der BGH habe sich erst in einer Folgeentscheidung ausdrücklich zur Übereinstimmung mit dem Unionsrecht geäußert, wies das OLG zurück: Gerichte seien stets gehalten, Europarecht zu beachten. Die bloße Nichterwähnung bedeute nicht, dass der BGH diesen Punkt damals übersehen hätte.