Verhungertes Kleinkind: Geldstrafe für Jugendamtsmitarbeiterin bestätigt

Im Fall eines verhungerten Kleinkindes im Sauerland hat das Oberlandesgericht Hamm die vom Landgericht Arnsberg gegen die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verhängte Geldstrafe am 22.10.2020 bestätigt. Trotz Hinweisen auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung sei die Angeklagte monatelang untätig geblieben.

Untätigkeit trotz Hinweisen auf mögliche Kindeswohlgefährdung

Die angeklagte Mitarbeiterin des Jugendamtes aus dem Hochsauerlandkreis betreute seit August 2013 eine alleinerziehende Mutter und deren neun Kinder. Aufgrund der Mitteilung eines anderen Jugendamtes war der Angeklagten bekannt, dass insbesondere ein Anfang 2012 geborener Junge und ein im Frühling 2013 geborenes Mädchen in ihrem Kindeswohl gefährdet sein könnten. Dennoch blieb sie untätig. Daher erkannte sie nicht, dass beide Kinder nicht ausreichend ernährt und mit Flüssigkeit versorgt worden sind. Das Mädchen konnte durch eine intensivmedizinische Behandlung gerettet werden, nachdem die Mutter sie in einer Notfallpraxis Anfang 2014 vorgestellt hatte. Dagegen verstarb der Junge nach einer Vorstellung durch die Kindesmutter einen Tag später im Krankenhaus, was auf seinen desolaten Versorgungszustand zurückzuführen gewesen ist.

Erst Bewährungs- dann Geldstrafe

Das Amtsgericht Medebach verurteilte die Angeklagte (Az. 6 Ds 213/16) wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt worden. Mit ihrer Berufung forderte die Angeklagte ihren Freispruch. Sie meinte, sie habe nach den fachlichen Standards der Jugendhilfe gehandelt. Die Staatsanwaltschaft ging ebenfalls in Berufung und forderte die Verurteilung zu einer höheren Freiheitsstrafe. Das Landgericht Arnsberg (Az.: 3 Ns 101/17) verwarf die Berufung der Staatsanwaltschaft. Auf die Berufung der Angeklagten verurteilte es sie wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 3.500 Euro. Während die Angeklagte ihre Garantenpflicht gegenüber diesem fahrlässig verletzt und ihr mögliche Maßnahmen zur Verhinderung von dessen Hungertod unterlassen habe, sei die Unterernährung des Mädchens für die Angeklagte nicht zu erkennen gewesen. Dagegen legte die Angeklagte Revision ein.

OLG bestätigt LG: Garantenpflicht bei verschuldeter Unkenntnis

Die Revision der Angeklagten hatte keinen Erfolg. Ein Jugendamtsmitarbeiter sei nicht erst dann zum Handeln verpflichtet, wenn er von einer konkret eingetretenen akuten Gefährdung des Kindeswohls tatsächlich Kenntnis nimmt. Vielmehr müsse er auch für eine pflichtwidrig herbeigeführte Unkenntnis von einer solchen Gefährdung einstehen. Denn anderenfalls wäre gerade derjenige Jugendamtsmitarbeiter, der alle an ihn herangetragenen Warnzeichen einer Kindeswohlgefährdung in einer von ihm betreuten Familie ignoriert und keinem Hinweis nachgehe, am umfassendsten vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt.

Monatelange Untätigkeit trotz Hinweisen

Die Angeklagte habe eine Gefährdungseinschätzung bezüglich des verstorbenen Jungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten nicht vorgenommen, obwohl dies unter anderem aufgrund der Mitteilung von Auffälligkeiten durch ein anderes Jugendamt und weiterer ihr bekannter Umstände geboten, möglich und ihr zumutbar gewesen wäre. Danach hätte sich die Angeklagte zeitnah nach Übernahme des Falls einen persönlichen Eindruck verschaffen oder bei einer Weigerung der Mutter das Familiengericht anrufen müssen.

Unterernährung wäre bei rechtzeitigem Handeln ins Auge gesprungen

Der körperliche Zustand des Jungen sei ab August 2013 bis zu seinem Tod bereits so reduziert gewesen, dass seine Unterversorgung und die daraus folgenden Verhaltensauffälligkeiten bei nicht nur ganz oberflächlicher Betrachtung des Kindes ins Auge gesprungen wären. Aufgrund ihrer Untätigkeit blieb der Angeklagten der über mindestens drei Monate andauernde Zustand des Verhungerns des Kindes pflichtwidrig verborgen, so dass sie das bei Kenntnis von der Situation Erforderliche nicht habe veranlassen können.

OLG Hamm, Beschluss vom 22.10.2020 - III-5 RVs 83/20

Redaktion beck-aktuell, 6. November 2020.