OLG Hamm: Fußgänger haften nach Betreten der Fahrbahn trotz Fahrzeugverkehrs in "70 km/h-Zone" überwiegend

Verunfallt ein Fußgänger, der die Fahrbahn unter Missachtung des Fahrzeugverkehrs betritt, mit einem Pkw, der die auf 70 km/h beschränkte, zulässige Höchstgeschwindigkeit um 11 km/h überschreitet oder zu spät auf den Fußgänger reagiert, kann die Haftung im Verhältnis von 1/3 zulasten des Pkw-Fahrers und 2/3 zulasten des Fußgängers zu verteilen sein. Das hat das Oberlandesgericht Hamm mit Urteil vom 10.04.2018 entschieden (Az.: 9 U 131/16, rechtskräftig).

Älteres Ehepaar bei Straßenüberquerung von Pkw erfasst

Der seinerzeit 76 Jahre alte Kläger und die seinerzeit 63 Jahre alte Klägerin überquerten im Januar 2013 gegen 17.00 Uhr als dunkel gekleidete Fußgänger – lediglich die Klägerin trug eine beigefarbige Hose – eine Straße in Witten in einem Bereich, in dem die zulässige Höchstgeschwindigkeit für Pkw auf 70 km/h begrenzt ist. Sie wurden vom beklagten Fahrer eines Pkw erfasst und schwer verletzt. Die im Rechtsstreit durchgeführte Beweisaufnahme ergab, dass der Pkw-Fahrer entweder 81 km/h gefahren war oder zu spät auf die die Fahrbahn betretenden Fußgänger reagiert hatte.

Schwere und noch immer nicht ausgeheilte Verletzungen

Durch den Zusammenstoß hatten die Kläger gravierende Verletzungen davon getragen. Beide erlitten unter anderem lebensgefährliche Kopf- und Lungenverletzungen, die bis heute nicht folgenlos verheilt sind. Die Kläger mussten längere Zeit stationär behandelt werden und sind bereits mehrfach operiert worden. Ihre ärztlichen Behandlungen dauern an.

Klagende Fußgänger sehen Haftung zu 2/3 bei Pkw-Fahrer

Vom beklagten Pkw-Fahrer und dem Haftpflichtversicherer des Fahrzeugs verlangen die Kläger Ersatz ihrer Sachschäden und immateriellen Schäden nach einer Haftungsquote von 2/3 zulasten der Beklagten. Unter Berücksichtigung dieser Quote machen sie unter anderem ein Schmerzensgeld von 50.000 Euro für den Kläger und von 60.000 Euro für die Klägerin geltend.

OLG ändert erstinstanzliches klageabweisendes Urteil teilweise ab

Das Landgericht Bochum hatte in der ersten Instanz die Klage abgewiesen, ausgehend von einer einfachen Betriebsgefahr auf Seiten der Beklagten, die hinter den groben Verstoß der Kläger gegen die Vorschrift des § 25 Abs. 3 Straßenverkehrsordnung zurücktrete. Die Berufung der Kläger gegen das erstinstanzliche Urteil war teilweise erfolgreich. Nach ergänzender Beweisaufnahme hat das OLG Hamm entschieden, dass die Haftung im Verhältnis von 1/3 zulasten der Beklagten und von 2/3 zulasten der Kläger zu verteilen ist. Ausgehend hiervon hat das OLG ein Grund- und Teil-Endurteil erlassen und das Betragsverfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen, damit dort die Schadenshöhe geklärt werden kann.

Fußgänger verstießen gravierend gegen § 25 Abs. 3 StVO

Die Parteien hafteten, so das OLG, im Verhältnis der genannten Quote für die bei dem Verkehrsunfall entstandenen Schäden. Das folge aus einer Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge, wobei auf beiden Seiten ein schuldhaftes Verhalten zu berücksichtigen sei. Den Klägern sei ein gravierender unfallursächlicher Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO anzulasten. Sie hätten das Beklagtenfahrzeug wahrnehmen und passieren lassen müssen, bevor sie die Fahrbahnbegrenzungslinie überschritten.

Auch Verschulden des Pkw-Fahrers gegeben

Auch den Pkw-Fahrer treffe ein Verschulden. Er habe entweder die am Unfallort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 11 km/h überschritten oder die die Fahrbahn betretenden Fußgänger zu spät bemerkt beziehungsweise zu spät auf diese reagiert. Nach den mit Hilfe eines Sachverständigen getroffenen Feststellungen zum Unfallhergang wäre der Unfall für den Pkw-Fahrer zwar nicht gänzlich vermeidbar gewesen, wenn er die erlaubten 70 km/h eingehalten hätte. Es wäre dann aber – bei der gebotenen sofortigen Reaktion auf das Erreichen beziehungsweise Überschreiten der Fahrbahnbegrenzungslinie durch die Kläger – zu einer deutlich weniger schweren Kollision mit circa 25 km/h anstatt der tatsächlichen Kollision mit mindestens 60 km/h gekommen. Zudem wäre der vorauseilende Kläger nur streifend erfasst worden. Die beiden alternativ anzunehmenden, sich unfallursächlich auswirkenden Verkehrsverstöße des Pkw-Fahrers hätten ein gleichwertiges Gewicht und rechtfertigten die Haftungsquote von 1/3 zulasten der Beklagten.

Verkehrsverstoß der Kläger wiegt schwerer

Der schwerwiegende Verkehrsverstoß der Kläger, ohne den der Unfall zudem gänzlich vermieden worden wäre, wiege deutlich schwerer und rechtfertige eine Quote von 2/3 zu ihren Lasten.

OLG Hamm, Urteil vom 09.04.2018 - 9 U 131/16

Redaktion beck-aktuell, 25. Juni 2018.

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