Erlass von Pflichtteilsansprüchen durch behinderten Sozialhilfeempfänger wirksam

Ein Vertrag, mit dem ein behinderter Sozialleistungsbezieher nach dem Tod des Vaters gegenüber seiner Mutter auf Pflichtteilsansprüche verzichtet, ist nicht sittenwidrig. Dies hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden, worauf der Deutsche Anwaltverein (DAV) hingewiesen hat. Die Grundsätze des Bundesgerichtshofs zur Wirksamkeit eines zuvor erklärten Pflichtteilsverzichts seien übertragbar. 

Sozialamt will aus übergelitetem Recht  

Der Sohn der Beklagten ist aufgrund eines cerebralen Geburtsschadens mit verminderter Sauerstoffversorgung seit seiner Geburt in seinen Fähigkeiten stark eingeschränkt und arbeitet seit seinem Hauptschulabschluss in einer Behindertenwerkstatt. Die Eltern errichteten ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben und ihre Tochter zur Schlusserbin einsetzten. Nach dem Tod des Vaters kann die Mutter ihren Sohn nicht mehr allein zu Hause versorgen. Deshalb ist dieser in einen betreute Wohneinrichtung gezogen und erhält Sozialhilfe. Es wurde eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, der Sohn ist gleichwohl voll geschäftsfähig. Zusätzlich vereinbarten die Mutter und der Sohn vor dem Notar einen Verzicht auf Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche. Das Sozialamt leitete gleichwohl die Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche des Sohnes auf sich über und verlangte von der Mutter als Alleinerbin des Vaters Auskunft und sodann Pflichtteilszahlung, da es den Verzichtsvertrag für sittenwidrig und damit unwirksam erachtete. Das verurteilte die Beklagte zur Auskunftserteilung. Dagegen legte sie Berufung ein.

OLG: Vereinbarter Verzicht war wirksam

Die Berufung hatte Erfolg. Das OLG hat die Stufenklage abgewiesen. Ansprüche auf den Pflichtteil könnten nicht geltend gemacht werden. Der insoweit zwischen der Mutter und ihrem Sohn vereinbarte Verzicht sei als Erlassvertrag wirksam gewesen und habe die Pflichtteilsansprüche untergehen lassen. Dieser nach dem Erbfall vereinbarte Pflichtteilserlass verstoße ebenso wenig gegen die guten Sitten wie ein zuvor erklärter Pflichtteilsverzicht. Letzteres sei durch den Bundesgerichtshof anerkannt und auf Fälle wie den vorliegenden zu übertragen.

Prinzip des Familienlastenausgleichs zu beachten

Auch wenn im vorliegenden Fall der Verzicht letztlich zulasten der Allgemeinheit wirke, da der Sozialstaat sich nicht zumindest teilweise die Unterstützungsleistung, die er an den Sohn gezahlt habe, über die Pflichtteilsansprüche zurückholen könne, sei hier das Prinzip des Familienlastenausgleichs zu beachten. Denn die mit der Versorgung, Erziehung und Betreuung von Kindern verbundenen wirtschaftlichen Lasten fielen im Falle behinderter Kinder besonders groß aus und die Eltern leisteten regelmäßig in den ersten Jahrzehnten des Lebens des behinderten Kindes einen so großen Beitrag, dass es gerechtfertigt sei, die Kosten im weiteren Verlauf des Lebens zu einem gewissen Teil von der Allgemeinheit tragen zu lassen.

OLG Hamm, Urteil vom 09.11.2021 - 10 U 19/21

Redaktion beck-aktuell, 16. März 2022.