OLG Hamm: Arglistige Täuschung durch Leugnen von Drogenkonsum in der Berufsunfähigkeitsversicherung

BGB §§ 123 I, 142 I; VVG §§ 19 I, 22

Auch wenn der Täuschung keine Frage des Versicherers in Textform vorausgeht, kann der Versicherer nach § 22 VVG in Verbindung mit § 123 Abs. 1 BGB anfechten. Wird eine mündlich gestellte Antragsfrage falsch beantwortet, kann dies eine Arglistanfechtung rechtfertigen. Offenbarungspflichtig ist ein gelegentlicher und phasenweiser Konsum von Amphetaminen am Wochenende bei einer Antragsfrage nach dem Konsum von Drogen, drogenähnlichen Substanzen oder Betäubungsmitteln in der Berufsunfähigkeitsversicherung. Für eine arglistige Täuschung ist ein betrügerisches Verhalten keine Voraussetzung. Es ist ausreichend, dass der Anfechtungsgegner Kenntnis von dem verschwiegenen Gefahrenumstand hat und mit seiner Täuschung die Willensentschließung des Versicherers – jedenfalls bedingt vorsätzlich – beeinflussen will. Dies hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden.

OLG Hamm, Beschluss vom 29.07.2019 - 20 U 82/19 (LG Bielefeld), BeckRS 2019, 37498

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dirk-Carsten Günther
BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Köln

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 6/2020 vom 19.03.2020

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Sachverhalt

Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung auf Zahlung einer monatlichen Rente in Anspruch; ferner begehrt er die Feststellung, dass der Vertrag wirksam fortbesteht. In dem Antragsformular kreuzte er bei der Frage, ob er Drogen, drogenähnliche Substanzen oder Betäubungsmittel konsumiere oder in den letzten zehn Jahren konsumiert habe, «nein» an, obwohl er seit etlichen Jahren gelegentlich Amphetamine konsumierte.

Nachdem der Kläger Leistungen bei der Beklagten beantragt hatte, erklärte diese nach einer Leistungsprüfung Anfechtung und Rücktritt vom Vertrag, weil der Kläger verschiedene Vorerkrankungen nicht angegeben habe. Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens erklärte die Beklagte erneut die Anfechtung, weil sich aus den vom Kläger im Klageverfahren eingereichten Unterlagen sein früherer Amphetaminkonsum entnehmen ließ.

Der Kläger trägt vor, dass ihm die Antragsfrage nur mündlich gestellt worden sei.

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen.

Rechtliche Wertung

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Senat führt aus, dass der Kläger nicht die Feststellung verlangen könne, dass der zwischen den Parteien ursprünglich geschlossene Versicherungsvertrag fortbestehe. Denn dieser sei durch die Anfechtung der Beklagten gemäß § 142 Abs. 1 BGB rückwirkend nichtig geworden.

Indem der Kläger die oben genannte Antragsfrage mit «nein» beantwortet habe, täusche er im Sinne des § 123 Abs. 1 BGB. Auch das Verschweigen von Umständen könne eine Täuschung darstellen, wenn eine Rechtspflicht zur Aufklärung bestehe. Eine solche Aufklärungspflicht bestehe jedenfalls immer dann, wenn der andere Teil nach gewissen Umständen ausdrücklich frage; solche Fragen müssten vollständig und richtig beantwortet werden.

Die Frage sei weder- «intransparent» - noch sonst unzulässig. Bei Amphetamin handele es sich sowohl in rechtlicher Hinsicht (vgl. Anl. III zu § 1 Abs. 1 BtMG) als auch nach dem allgemeinen, für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbaren Sprachgebrauch um ein Betäubungsmittel im Sinne der Frage.

Zudem sei die Anfechtungsmöglichkeit nach § 22 VVG in Verbindung mit § 123 Abs. 1 BGB nach gefestigter Rechtsprechung nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Täuschung eine Frage des Versicherers in Textform vorausgegangen sei. Denn § 22 VVG sehe vor, dass das Recht des Versicherers aus § 123 ff. BGB «unberührt» bleibe. Deshalb könne unabhängig von der Frage, ob und in welchen Fällen auch ganz ohne eine Frage des Versicherers eine spontane Anzeigepflicht besteht, jedenfalls die falsche Beantwortung einer mündlich gestellten Frage eine Anfechtung gemäß § 22 VVG, § 123 Abs. 1 BGB rechtfertigen. Dem Kläger sei die maßgebliche Frage gestellt worden, sodass eine Rechtspflicht zur Offenbarung seines Drogenkonsums bestehe.

Die Aussage des Klägers vor dem LG, dass er im für die Antragsfrage maßgeblichen Zeitraum von zehn Jahren Amphetamin konsumiert habe, führe dazu, dass eine Falschbeantwortung der Frage und demnach eine objektive Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB gegeben sei.

Diese Täuschung sei arglistig erfolgt. Eine arglistige Täuschung setze kein betrügerisches Verhalten voraus. Es genüge, wenn der Anfechtungsgegner Kenntnis von dem verschwiegenen Umstand habe und mit seiner Täuschung die Willensentschließung seines Gegenübers - jedenfalls bedingt vorsätzlich - beeinflussen wolle.

Ein wichtiges Indiz für das Vorliegen von Arglist könne es sein, wenn Umstände verschwiegen werden, deren Gefahrerheblichkeit auch aus Sicht eines verständigen Versicherungsnehmers auf der Hand lägen. Ein Versicherungsnehmer müsse und werde davon ausgehen, dass der Versicherer bei wahrheitsgemäßer Offenlegung des Konsums den Antrag jedenfalls nicht ohne weitere Nachprüfung annehmen wird, was für eine Arglist genüge. Der Kläger habe dies erkannt und gebilligt; auch wenn er pauschal behaupte, ihm sei ein möglicher Einfluss auf die Entscheidung der Beklagten nicht bewusst gewesen.

Die Beklagte hätte ihre Willenserklärung bei wahrheitsgemäßer Angabe des Betäubungsmittelkonsums jedenfalls nicht zu dem betreffenden Zeitpunkt abgegeben, sodass die Täuschung des Klägers kausal gewesen sei. Aufgrund der rückwirkend eingetretenen Nichtigkeit des Versicherungsvertrages ständen dem Kläger somit keine Leistungsansprüche aus dem Vertrag zu.

Praxishinweis

Bereits 2017 entschied das OLG Hamm (BeckRS 2017, 107673), dass es genüge, wenn der Anfechtungsgegner Kenntnis von dem verschwiegenen Gefahrumstand habe und mit seiner Täuschung die Willensentschließung des Versicherers – jedenfalls bedingt vorsätzlich - beeinflussen wolle. Dabei könne es für das Merkmal der Arglist entscheidend sein, ob es für die Falschangabe eine plausible Erklärung gebe, wenn der Versicherungsnehmer auf entsprechende Fragen einen anzeigepflichtigen und ihm bewussten Umstand verschweige.

Die arglistige Täuschung setzt eine Vorspiegelung falscher oder ein Verschweigen wahrer Tatsachen gegenüber dem Versicherer zum Zweck der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums voraus. Der Versicherungsnehmer muss vorsätzlich handeln, indem er bewusst und willentlich auf die Entscheidung des Versicherers einwirkt. Falsche Angaben in einem Versicherungsantrag allein rechtfertigen den Schluss auf eine arglistige Täuschung nicht; einen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass eine bewusst unrichtige Beantwortung einer Antragsfrage immer und nur in der Absicht erfolgt, auf den Willen des Versicherers einzuwirken, gibt es nicht (OLG Hamm VersR 2008, 477, 478).

Vielmehr muss der Anfechtungsgegner einen Täuschungswillen aufweisen und mit seiner Täuschung die Willensentschließung seines Verhandlungspartners – jedenfalls bedingt vorsätzlich - beeinflussen wollen. Dies ist dann anzunehmen, wenn sich der Versicherungsnehmer bewusst ist, dass der Versicherer möglicherweise seinen Antrag nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen annehmen werde, wenn er die Wahrheit sage (OLG Hamm VersR 1990, 765).

Nach Ansicht des BGH erfasst Arglist nicht nur ein Handeln des Veräußerers, das von betrügerischer Absicht getragen ist, sondern auch solche Verhaltensweisen, die auf bedingten Vorsatz im Sinne eines «Fürmöglichhaltens» reduziert sind und mit denen kein moralisches Unwerturteil verbunden sein muss (NJW 2001, 2326, 2327).

Redaktion beck-aktuell, 1. April 2020.