Rechtskräftig verurteilt ist der beschuldigte Sexualstraftäter bereits, weil der BGH seine Verurteilung in einem ersten Durchgang im September 2020 durch das LG Frankfurt a.M. im Kern gebilligt hatte. Es ging um zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen und verwandte Straftaten. Nur den konkreten Schuldspruch hatte er in einigen Punkten aufgehoben.
Daraufhin hatte das LG erneut verhandelt und im Juli 2021 eine geringere Gesamtstrafe von acht Jahren und neun Monaten Haft verhängt sowie die Unterbringung des Mannes in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auch mit einer abermaligen Revision hatte der Mann vor den obersten Strafrichtern im Oktober 2023 wieder Erfolg – freilich nur hinsichtlich der Frage, ob seine Steuerungsfähigkeit entsprechend § 21 StGB erheblich vermindert war.
Doch nun zog sich das Verfahren weiter hin. Im März 2024 beantragte der Verteidiger eine Haftprüfung beim LG Wiesbaden, wohin der BGH die Angelegenheit nun im zweiten Durchgang zurückverwiesen hatte. Sein Mandant saß immerhin schon seit Januar 2018 hinter Gittern. Daraufhin setzte die dortige Jugendschutzkammer im April aus Gründen der Verhältnismäßigkeit den Haftbefehl außer Vollzug: Der Fluchtanreiz sei angesichts des aktuell noch höchstens zu erwartenden Strafmaßes nicht mehr so hoch, dass man ihm nicht mit Auflagen begegnet könnte – zumal im Hinblick auf die im Raum stehende Sicherungsverwahrung. Auch der Wiederholungsgefahr lasse sich durch Auflagen entgegenwirken. Dagegen legte die Generalstaatsanwaltschaft aus der Mainmetropole Beschwerde ein – vergeblich.
Auch nach Schuldspruch: Verfahrensbeschleunigungsgebot verletzt
Auch das OLG stellte sich mit einem jetzt veröffentlichten Beschluss (vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24) gegen die Anklagebehörde. Zwar bestünde bei einer Freilassung Fluchtgefahr. Doch bestehe keine Wiederholungsgefahr, das letzte Sexualdelikt sei zu lang her, "auch unter Berücksichtigung der bei dem Angeklagten überdauernd vorliegenden Pädophilie als Nebenströmung", so die Oberlandesrichterinnen und -richter.
Vor allem aber übersehe die Generalstaatsanwaltschaft, dass die Aufrechterhaltung des Haftbefehls "nicht gerechtfertigt [ist], weil das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz MRK folgende Beschleunigungsgebot verletzt ist." Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlange, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, schreiben die Richter unter Hinweis auf Rechtsprechung des BVerfG zur überlangen Verfahrensdauer (Beschluss vom 19.09.2007 – 2 BvR 1850/07).
Grundsätzlich könne daher die Untersuchungshaft nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorliegt. "Allerdings vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Freiheitsrecht des Untersuchungsgefangenen, wenn der Schuldspruch – wie hier – rechtskräftig ist, da bei dieser Verfahrenslage die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt." In solchen Fällen komme es nicht mehr allein darauf an, ob es zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, vermeidbaren und erheblichen, von dem Angeklagten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung gekommen ist. Vielmehr müssten auch die zu erwartende Strafe und der Grad des Verschuldens der Justiz an der Verfahrensverzögerung berücksichtigt werden.
Bummelei beim BGH
Und genau hier setzt der ungewöhnliche Rüffel der Frankfurter OLG-Richter am Vorgehen des BGH an. Zwar lief aus ihrer Sicht bis zur zweiten Vorlage des LG-Urteils vom Juli 2021 bei der Karlsruher Höchstinstanz alles (einigermaßen) korrekt. Die nunmehr zwei Verteidiger erhielten den 143-seitigen Richterspruch im Oktober und schickten die Begründung ihrer abermaligen Revision im November an die Ausgangsinstanz; ungefähr zeitgleich trudelte dort die Erwiderung der Generalstaatsanwaltschaft ein. Mitte Dezember verfügte der Vorsitzende der Strafkammer die Übersendung der Akten an die Frankfurter Strafverfolger; im Januar 2022 schickte die Generalstaatsanwaltschaft einen Bericht an die Bundesanwaltschaft, wo die Unterlagen prompt eintrafen. Diese Behörde fackelte nicht lange und sandte bereits Anfang Februar ihren Antrag, den Wunsch auf Aussetzung des Haftbefehls abzulehnen, an den BGH. Es folgten die Bestimmung der Beisitzer am dortigen Strafsenat durch dessen Vorsitzenden (Ende Februar) sowie Gegenäußerungen der Verteidiger zum Begehren der Bundesanwälte (Februar und Juli 2022).
Aber erst am 24. Oktober 2023 gab der BGH-Senat durch einstimmigen Beschluss dem Rechtsmittel des Angeklagten statt und wies auch darauf hin, dass die Tatrichterinnen und -richter in der nächsten Prozessrunde bei der Festlegung der Rechtsfolgen die lange Dauer der U-Haft zu berücksichtigen hätten. "Bis dahin ist seit Eingang der letzten Gegenerklärung eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten zu verzeichnen", monieren dennoch die Oberlandesrichterinnen und -richter. Auch werfen sie den Karlsruher Kollegen vor, dass diese schon im Jahr 2020 fünf Monate gebraucht hätten, um nach Eingang der letzten Gegenerklärung zu entscheiden. Seinerzeit habe der BGH immerhin auch den Schuldspruch zu überprüfen gehabt. Im Oktober 2023 sei es aber nur noch um den Rechtsfolgenausspruch gegangen, und dabei hätten drei Richter mitgewirkt, die auch an der ersten Entscheidung beteiligt gewesen waren.
Ein letzter Stein des Anstoßes: Für den Senat in der hessischen Bankenstadt ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Oktober-Entscheid dann auch noch erst gut zwei Monate später ausgefertigt wurde und dass es bis zu dessen Übersendung an die Beteiligten bis Mitte Januar 2024 dauerte, weshalb die Frankfurter Richter dem Karlsruher Sündenkonto zwei weitere Monate aufaddieren.
Tor der Haftanstalt öffnet sich
Damit war für das OLG das Fass voll. "Die zu erwartende Strafe kann unter Berücksichtigung der bereits gegen den Angeklagten vollzogenen, anrechenbaren Untersuchungshaft von sechs Jahren und knapp drei Monaten nicht mehr als erheblich angesehen werden", konstatieren sie. Ausgehend von der zuletzt verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten dürfte unter Berücksichtigung der vom BGH angeordneten Prüfung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeiten sowie der überlangen Verfahrensdauer im Revisionsverfahren eine Freiheitsstrafe von mehr als sieben und weniger als acht Jahren zu erwarten sein. Davon sei allenfalls noch ein Rest von zehn Monaten bis zu einem Jahr und acht Monaten zu vollstrecken. Ob die Anordnung der Sicherungsverwahrung erneut in Betracht kommt, bleibe mit Blick auf das Ergebnis des neuen Sachverständigengutachtens abzuwarten .
Das Fazit, das den Schlüssel zum Öffnen des Gefängnistors liefert: "Die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Angeklagten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit und dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung sowie -vollstreckung rechtfertigt angesichts der erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der Dauer der bislang vollzogenen Untersuchungshaft von mehr als sechs Jahren die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr."