Kein Mitverschulden eines elfjährigen Kindes an Verkehrsunfall

Das Oberlandesgericht Celle hat einem elfjährigen Mädchen, das beim Überqueren einer Straße von einem Auto erfasst wurde, vollen Schadenersatz zugesprochen. Die situationsbedingte Überforderung des Kindes, die Gefahrenlage im Straßenverkehr richtig einzuschätzen, sei zu berücksichtigen und stehe einem Mitverschulden des Kindes, das den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr nicht ausreichend beachtet habe, entgegen.

Auto erwischt Elfjährige beim Überqueren der Straße

Ende Dezember 2012 überquerte die damals elfjährige Klägerin als letztes von vier Kindern kurz vor 8.00 Uhr morgens im Dunkeln eine Straße in der Nähe ihrer Schule. Eines der vorausgehenden Kinder trug eine gelb reflektierende Jacke. Dieser Gruppe näherte sich ein Kraftfahrzeug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 55 km/h anstatt erlaubter 50 km/h. Kurz bevor die Klägerin den Bürgersteig erreichte, erfasste das Fahrzeug sie. Die Klägerin erlitt durch den Unfall insbesondere einen Beckenbruch, einen Dammriss und eine Mittelgesichtsprellung und wurde mehrtägig stationär behandelt. Sie verlangt von dem Fahrer, der Halterin und der Haftpflichtversicherung des Unfallfahrzeugs ein Schmerzensgeld und die Verpflichtung, für künftige unfallbedingte Schäden aufzukommen.

OLG Celle: Verschulden ganz überwiegend bei Kfz-Fahrer

Das Landgericht Verden hatte in erster Instanz ein Mitverschulden der Klägerin angenommen, aufgrund dessen ihre Ansprüche um 25% gemindert seien. Das OLG Celle hat der Klage dagegen in vollem Umfang stattgegeben. Der Fahrer des Kraftfahrzeugs habe den Unfall jedenfalls ganz überwiegend verschuldet. Nach § 3 Abs. 2a StVO müsse sich ein Fahrzeugführer so verhalten, dass eine Gefährdung insbesondere von Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen ausgeschlossen ist. Hier hätte der Fahrer sein Fahrverhalten sofort anpassen müssen, als er die Kinder im Straßenbereich wahrnahm. Darüber hinaus hätte er den Unfall auch verhindern können, wenn er nur die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte.

Kind traf an seinem Fehlverhalten kein Verschulden

Zwar habe sich das Kind ebenfalls falsch verhalten. Entgegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO habe es beim Überqueren der Straße den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr nicht ausreichend beachtet. Nach der Überzeugung des OLG Celle traf es insoweit aber kein Verschulden. Nach § 828 Abs. 2 BGB könnten Kinder ohnehin erst ab Vollendung des zehnten Lebensjahres für Unfälle im Straßenverkehr verantwortlich sein. Hier sei hinzu gekommen, dass das nur unwesentlich ältere Kind nachvollziehbarer Weise überfordert war, weil es sich schon auf der Straße befand, als es das Fahrzeug wahrnahm, Entfernung und Geschwindigkeit dieses Fahrzeugs auch aufgrund der Dunkelheit falsch einschätzte und reflexhaft die falsche Entscheidung traf, der Gruppe hinterherzulaufen. Der Fahrer des Kraftfahrzeugs habe sich auch nicht darauf verlassen dürfen, dass sich das Kind richtig verhalten werde.

Höheres Schmerzensgeld zugesprochen

Das OLG Celle hat deshalb nicht nur die Verpflichtung der Beklagten festgestellt, der Klägerin ihren materiellen Schaden vollständig zu ersetzen. Er hat sie auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt, das mit insgesamt 35.000 Euro noch deutlich über den Vorstellungen der Klägerin selbst liegt. Die Klägerin habe schwere Verletzungen und Dauerschäden, unter anderem im Genitalbereich, mit möglichen Risiken auch bei späteren Schwangerschaften erlitten. Aufgrund ihres jungen Alters habe sie noch lange an den Verletzungsfolgen zu tragen. Dies sei bei der Schmerzensgeldbemessung bislang nicht berücksichtigt worden.

OLG Celle, Urteil vom 19.05.2021 - 14 U 129/20

Redaktion beck-aktuell, 31. Mai 2021.