Gefährdungshaftung bei Massenkollision

Die Gefährdungshaftung für ein Auto erfasst auch Fälle, in denen das Fahrzeug nur "passiv" in einen Verkehrsunfall geraten ist. Das Oberlandesgericht Celle stellte fest, dass die Haftpflichtversicherung eines Fahrzeugs, gegen das ein anderes Auto nach einer Erstkollision geschleudert wurde, ebenfalls für hieraus entstandene Schäden haften muss. Der Schutzzweck des § 7 StVG sei sehr weitgefasst, weil die Haftung der Preis dafür sei, eine Gefahrenquelle zu eröffnen.

Betrunkene verursacht Unfall auf der Autobahn

Auf der Autobahn A 20 gab es einen Stau, weshalb der Versicherungsnehmer der Beklagten beim Heranfahren auf der rechten Fahrspur langsamer wurde. Auch das folgende Fahrzeug passte sich der geringeren Geschwindigkeit an. In diesem Wagen saßen außer der Fahrerin noch zwei Kinder und deren Großmutter. Von hinten kam eine betrunkene Autofahrerin auf der linken Fahrspur mit hohem Tempo angefahren. Plötzlich wechselte sie mit 120 h/km die Fahrspur und kollidierte mit dem vollbesetzten Fahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls wurde es auf das voranfahrende Auto geschleudert. Die Großmutter und ein Kind starben, der zehnjährige Kläger wurde schwer verletzt und wird voraussichtlich dauerhaft pflegebedürftig bleiben. Der Kläger hatte in erster Instanz vor dem Landgericht Hannover die Feststellung beantragt, dass auch die beklagte Haftpflichtversicherung des vorangefahrenen Fahrzeugs gesamtschuldnerisch für die Schäden hafte. Während die Hannoveraner Richter die Klage zurückwiesen, war der Kläger vor dem Oberlandesgericht Celle überwiegend erfolgreich.

Kein unabwendbares Ereignis

Der Halter eines Fahrzeugs hafte nach § 7 Abs. 1 StVG für Schäden, die beim Betrieb des Wagens entstanden seien. Ausgenommen seien nach Abs. 2 nur solche Schäden, die auf höhere Gewalt zurückzuführen sind. Diese Ausnahme lehnte das OLG Celle hier ab: Höhere Gewalt bedeute immer eine Einwirkung von außen, hier habe sich aber gerade das typische Risiko des Autobahnverkehrs durch einen Verkehrsteilnehmer realisiert. Es liege auch keine Sabotage oder ein Akt der Selbsttötung vor, den man als verkehrsfremden Eingriff einordnen könnte, sondern schlicht ein Unfall. Ob der Fahrer den Unfall hätte vermeiden können oder nicht, spiele angesichts des fehlenden Eingriffs von außen keine Rolle.

Gefährdungshaftung auch für "passives" Fahrzeug

Obwohl das Fahrzeug nur als bloßes Hindernis am Unfall beteiligt war, haftet dessen Halter nach Ansicht der Celler Richter gesamtschuldnerisch für die Verletzung des Klägers. Der Schutzzweck des § 7 StVG sei weitgefasst, weil die Haftung der Preis dafür sei, eine Gefahrenquelle zu eröffnen. Daher genüge allein der Betrieb des Fahrzeugs – ein Fahrfehler ist laut OLG nicht erforderlich. Die Ersatzpflicht trete ein, sobald das Fahrzeug das Unfallgeschehen mitpräge und der Schaden dem Betrieb zugerechnet werden könne. Das sei hier der Fall, denn der Wagen befand sich auf der Autobahn und bewegte sich dort im Fluss, als der Unfall geschah. Er könne nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Unfall passiert wäre. Das OLG betonte, es gehe bei der Halterhaftung nicht um den Ausgleich von Verhaltensunrecht, sondern um eine rein erfolgsbezogene Haftung. Laut den Feststellungen des OLG Celle waren die lebensgefährlichen Verletzungen bei der zweiten Kollision mit dem Vordermann entstanden. 

OLG Celle, Urteil vom 10.05.2023 - 14 U 56/21

Redaktion beck-aktuell, 16. Mai 2023.