Nicht zweimal?
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Die jüngst vom Bundestag ausgeweitete Möglichkeit, bereits Freigesprochenen einen neuen Strafprozess zu machen, lässt Rechtspolitiker, Wissenschaftler und Anwaltschaft nicht ruhen. Ein Versuch mehrerer Bundesländer, im Rechtsausschuss des Bundesrats eine Anrufung des Vermittlungsausschusses zu erzwingen, ist zwar am gestrigen Mittwoch gescheitert. Doch nun richten sich mancherlei Hoffnungen auf das Bundesverfassungsgericht.

Unverjährbare Delikte

Im Juni hatte die Große Koalition im Bundestag eine Ergänzung von § 362 StPO beschlossen: Eine neue Nr. 5 erlaubt demnach einen abermaligen Strafprozess gegen bereits Freigesprochene, "wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte (...) verurteilt wird". Beschränkt ist eine solche Wiederaufnahme auf unverjährbare Delikte, also Mord sowie bestimmte Tatbestände des Völkerstrafgesetzbuchs. Die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne stimmten gegen die Änderung, die Anwaltsorganisationen übten (wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten) Kritik.

Niederlage im Bundesrat

Vier Bundesländer sind jetzt vorerst mit ihrem Vorstoß gegen die Reform gescheitert: Thüringen, Hamburg, Berlin und Sachsen machten sich gestern Vormittag auf der 986. Sitzung des Bundesrats-Rechtsausschusses dafür stark, den Vermittlungsausschuss zwischen Länderkammer und Bundestag anzurufen - vergeblich. Dabei erhielt das Quartett der grünen Landesjustizminister und -ministerinnen nach Informationen der NJW auch Unterstützung der Bremer SPD-Senatorin Claudia Schilling und ihres rheinland-pfälzischen Kollegen Herbert Mertin (FDP), die sich dem Wunsch anschlossen; deren CDU-Kollegen aus Hessen und Schleswig-Holstein enthielten sich überdies. Nordrhein-Westfalen verfolgt stattdessen ein anderes Anliegen und fand für einen entsprechenden Appell an die Bundesregierung mit 14 Ja-Stimmen breite Zustimmung: Der dortige Ressortchef aus der CDU, Peter Biesenbach, will eine weitere Reform verhindern, die Union und SPD - wenig beachtet - im letzten Moment draufgesattelt hatten – nach § 194 Abs. 2 BGB n.F. sollen auch zivilrechtliche Ansprüche aus solchen Straftaten nicht mehr verjähren. Wobei übrigens in den Ausschüssen jedes Bundesland eine Stimme hat und vom jeweiligen Minister vertreten wird, wogegen deren Zahl im Plenum nach der jeweiligen Bevölkerungsgröße gestaffelt ist und eine einheitliche Haltung der gesamten Landesregierung erforderlich ist.

Hoffnung auf Karlsruhe

Eher zeichnet sich ein anderes Prozedere ab, wie Rechtsanwalt Stefan Conen am Dienstagabend auf einer Presseveranstaltung des Deutschen Anwaltvereins im Berliner Café Einstein Unter den Linden hoffte: eine abstrakte Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht, die bereits eine einzelne Landesregierung (ebenso wie ein Viertel der Bundestagsabgeordneten oder eine künftige Bundesregierung) einleiten könnte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Das wäre dem Rechtsfrieden zuträglicher, hoffte er, als eine Verfassungsbeschwerde oder konkrete Normenkontrolle durch ein vorlegendes Gericht, da dann Boulevardmedien hitzig über den Mordfall berichten würden.

In tiefer Nacht

Die Koalition hatte das Vorhaben tief in der Nacht im Plenum des Parlaments verabschiedet - kurz nach einer recht plötzlich angesetzten Anhörung im eigenen Rechtsausschuss. Allerdings hatte die Union es bereits in den Vertrag des Regierungsbündnisses hineinverhandelt, und schon 2009 hatte es eine ähnliche (wenngleich weniger weit reichende) Initiative dazu gegeben. Ungewöhnlich: Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte ihrer eigenen Fraktion beim Formulieren des Normtextes die Zuarbeit verweigert. Das sogenannte Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit wird von den schwarz-roten Volksvertretern damit begründet, ein Festhalten an der Rechtskraft könne zu "schlechterdings unerträglichen Ergebnissen" führen.

Gefühl versus Ratio

Conen fragte zu diesem rechtspolitischen Streit: "Schlägt das Gefühl die Ratio - oder kann diese das Gefühl noch einhegen?" Im Blick hatten die Rechtspolitiker von CDU/CSU und SPD vor allem den Fall eines ermordeten Mädchens, dessen Vater einen freigesprochenen Mann für den Täter hält und für eine Verurteilung kämpft. Der Berliner Strafverteidiger - bekannt für Mandate zugunsten unter anderem von Clan-Größen - sieht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz ("Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden"). Das hatte er - im Gegensatz zu drei Strafrechts- und auch einem Verfassungsrechtsprofessor - für den DAV schon in jener Anhörung vertreten. Zumal die jetzt beschlossene Ausweitung des § 362 StPO weiter geht als lange geplant: Nicht mehr nur neue technische Möglichkeiten, sondern überhaupt jedes neue Beweismittel kann demnach dazu führen, dass ein Strafverfahren wieder aufgerollt wird, etwa die nachträgliche Freigabe der Aussagegenehmigung für eine V-Person durch eine Behörde oder eine ursprünglich verweigerte Auskunft eines früheren Partners nach dem Scheitern der Ehe.

Doppelbestrafung oder Doppelverfolgung?

Und schon am folgenden Abend hielt die neugegründete "Regnum Legis - Gesellschaft für rechtsstaatliches Bewusstsein gGmbH" hierzu eine Podiumsdiskussion unter dem Motto "#nichtzweimal" ab, die im Internet gestreamt wurde. Mit auf dem Podium in einem ehemaligen Umspannwerk in Kreuzberg: Der Öffentlichrechtler Helmut Aust von der FU Berlin, der vor dem Bundestags-Rechtsausschuss eine Verfassungswidrigkeit geltend gemacht hatte - auch unter Rekurs auf ein Urteil des BVerfG von 1981, das allerdings hinsichtlich der bereits vier anderen Wiederaufnahmegründe "Grenzkorrekturen" für möglich gehalten hatte. Wie die klare Mehrheit der Rechtsgelehrten im Verfassungsrecht versteht er zudem das Doppelbestrafungsverbot der Grundgesetz-Vorschrift als "Mehrfachverfolgungsverbot". Eine zusätzliche Zwickmühle sieht Aust darin, dass dem knappen Reformtext nicht zu entnehmen sei, ob auch eine Rückwirkung gewollt sei - was er erst recht für unzulässig hielte.

Lebenslanger Makel

Die Hamburger Strafverteidigerin Gül Pinar fürchtete bei der Veranstaltung einen Dammbruch. Sie glaubt, die Politik werde es nicht bei unverjährbaren Delikten belassen. Auch sieht sie durch die Neuregelung das Vertrauen in den Rechtsstaat eher erschüttert als - wie von den Protagonisten angestrebt - gestärkt: "Bei dieser Argumentation muss man sich doch fragen: Was haben wir denn bis jetzt für Zustände in der Strafjustiz?" Pinar, ebenfalls im DAV engagiert, verwies auf die Folgen für Betroffene: "Ein freisprechendes Urteil ist künftig nur noch ein Zwischenurteil - ein Freigesprochener muss lebenslang damit rechnen, ihm könne doch noch etwas passieren."

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 2. September 2021.