Neurotechnologie: Nicht mehr nur Science-Fiction
© Bartek / Adobe Stock

Die Neurowissenschaften könnten bald Dinge ermöglichen, die man bislang nur aus Filmen kannte. Dieser Fortschritt wirft aber grundlegende menschenrechtliche Fragen auf – gerade, wenn Elon Musk mitmischt. Tade Spranger mit einem Streifzug durch die – manchmal gruselige – Welt der Hirnforschung.

Als der Physiologe Benjamin Libet 1979 in einem (recht holzschnittartigen) Versuchsaufbau zeigen konnte, dass das motorische Zentrum des Gehirns bereits zur Vorbereitung einer Bewegung angesetzt hat, bevor man sich für die Ausführung dieser Bewegung bewusst entschieden hat, stellte sich rasch die Frage, ob man vor diesem Hintergrund noch von einem freien Willen des Menschen sprechen könne. 

Die Annahme eines neurobiologischen Determinismus führt auf den ersten Blick zu gewissen Herausforderungen. unter anderem für das Schuldprinzip, sodass sich insbesondere im Strafrecht eine breite Diskussion über die möglichen Folgen des Libet-Experiments entspann. Bekanntlich wurde das Strafrecht nicht grundlegend reformiert, da sich zu Recht die Auffassung durchsetzen konnte, dass rechtliche Kategorien als gesellschaftlich-politische Konstrukte autonom neben naturwissenschaftlichen Erkenntnissen bestehen können. Somit prägt nach wie vor das Schuld- und nicht das Präventionsprinzip das Strafrecht.

Kann ein Hirnscan Lügner und Psychopathen erkennen?

Doch schon bald zeigte sich, dass die Anwendungsfelder moderner Neurowissenschaften weit über das Feld der Willensfreiheit hinausreichen. So stellt sich etwa im strafrechtlichen bzw. –prozessualen Kontext die Frage, ob man mittels eines Hirnscans (wie etwa der funktionellen Magnetresonanztomographie fMRT) oder anderer Neurotechnologien Lügen erkennen kann. Während sich einige Unternehmen in den USA mit viel Elan - jedoch weitgehend erfolglos – darum bemüht haben, ihre Technologien an die Justiz zu verkaufen, verwenden die Gerichte in einigen indischen Bundesstaaten nach wie vor den sogenannten BEOS-Test, mittels dessen die Tatbeteiligung einer befragten Person durch die Auslösung elektrophysiologischer Impulse ermittelt werden soll.

Vor deutschen Gerichten sind derartige Vorstöße aktuell nicht zu registrieren, zumal es den vorhandenen Methoden (noch) an der rechtlich gebotenen Aussagekraft fehlt. Auf einem anderen Blatt steht freilich die Frage, welche Beeinträchtigungen von Hirnfunktionen Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit haben. So wurde etwa nach (unerlaubter) Untersuchung des Gehirns von Ulrike Meinhof durch einen prominenten Psychiater und Hirnforscher vorgebracht, dass die RAF-Terroristin aufgrund der bei einer Operation erlittenen Hirnverletzungen wenigstens vermindert schuldfähig gewesen sei. 

Und nicht nur bei physischen Läsionen stellen sich derartige Fragen. So widmet sich etwa der US-amerikanische Neurowissenschaftler Kent Kiehl der Frage, ob eine Reduktion des sogenannten limbischen Systems bei Psychopathen besonders häufig anzutreffen ist – was eine Ursache der Persönlichkeitsstörung sein könnte. Ob bestimmte Hirnaktivierungen für bestimmte Gruppen von Straftätern typisch sind, wurde aber beispielsweise auch an der Berliner Charité mit Blick auf Pädophilie untersucht.

Neurotechnologien können Persönlichkeit manipulieren

Während die genannten Beispiele einen gewissen Gänsehauteffekt versprechen und daher auch medial vergleichsweise viel Aufmerksamkeit erfahren haben, spielt sich ein Gutteil neurowissenschaftlicher Forschung unter dem Radar der breiteren Öffentlichkeit ab. Dies gilt etwa für die Anwendungspotentiale der sogenannten Tiefen Hirnstimulation (THS), die therapeutisch beispielsweise zur Behandlung schwerster Depressionen, aber auch von Parkinsonpatienten genutzt werden kann. Mit einer THS können aber auch Persönlichkeitsveränderungen einhergehen, was nicht nur ethische, sondern auch rechtliche Fragen aufwirft. Da die THS ein invasives Verfahren darstellt, bei dem der oder die Betroffene "verdrahtet" werden muss, scheinen hier missbräuchliche Anwendungen zur gezielten Persönlichkeitsmodifizierung eher ausgeschlossen. 

Anders verhält es sich für nicht-invasive neurowissenschaftliche Verfahren, die ähnliche Effekte ermöglichen. So wurden bereits Technologien patentiert, bei denen in der Patentschrift ausdrücklich auf die technische Möglichkeit hingewiesen wurde, mittels Angsterzeugung verhaltenssteuernde Wirkungen zu erzielen, um so unerwünschtem "unsozialen Verhalten" entgegenzusteuern. Ebenso wurden Erfindungen patentiert, die eine nicht-invasive "Modulation" von Gedankeninhalten dergestalt versprechen, dass der oder die Betroffene selbst nicht in der Lage ist, eigene von künstlich erzeugten Gedanken zu unterscheiden.

Was plant Elon Musk mit Neuralink?

Ebenfalls vergleichsweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit genoss lange Zeit das Feld der Brain Computer Interfaces (BCI), die sich die Erkenntnis zunutze machen, dass schon die bloße Vorstellung eines bestimmten Verhaltens (wie z.B. einer Fußbewegung) messbare Veränderungen der elektrischen Hirnaktivität auslöst. Bei BCI werden also Aktivitäten des Gehirns aufgezeichnet, analysiert und in Steuersignale umgesetzt, um so letztlich gedankengesteuerte Äußerungen oder Handlungen eines Assistenzsystems zu ermöglichen. 

Von derartigen Systemen profitieren vor allem Menschen mit Behinderungen, denen sich völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen. Spätestens mit den Aktivitäten von Elon Musk in diesem Bereich hat sich der Diskurs indes zunehmend verschoben. Zwar zielt sein Unternehmen Neuralink zunächst auf medizinische Applikationen. Jedoch werden explizit nicht nur alltägliche Anwendungen, sondern vor allem auch die Verknüpfung der entsprechenden Instrumente mit Systemen künstlicher Intelligenz thematisiert. Eine KI-gestützte Hirn-Computer-Schnittstelle weist freilich vollkommen andere Einsatzmöglichkeiten auf als eine rein therapeutische Anwendung.

Damit wird zugleich der Bogen gespannt zu Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit. Letztlich setzen alle neurowissenschaftlichen Anwendungen die Nutzung von besonders schutzwürdigen Gesundheitsdaten voraus. Das erst vor wenigen Jahren durch die DS-GVO implementierte hohe Schutzniveau für diese sogenannten besonderen Kategorien personenbezogener Daten steht allerdings schon wieder unter Druck. Denn der sogenannte European Health Data Space (EHDS) und die kurz vor der Verabschiedung stehende EHDS-VO sehen ein System der Sekundärdatennutzung vor, das den Datenschutzbehörden massive Sorgen bereitet: Wenn der Primärzweck – also etwa die Behandlung eines Patienten oder einer Patientin - erreicht wurde, können letztlich alle, die ein Interesse an der weiteren Nutzung dieser Daten bekunden, über eine behördliche Struktur Zugang zu den Daten erhalten. Da das ebenfalls in diesem Jahr angenommene KI-Gesetz der EU davon ausgeht, dass datenschutzrechtliche Fragestellungen sämtlich abschließend durch die DS-GVO geregelt werden, schlägt das geminderte Datenschutzniveau im EHDS-Ansatz auch auf alle KI-gestützten Anwendungen durch.

Regularien für Neurotechnologie: UNESCO macht den Anfang

In der Summe zeigen sich damit zahlreiche Anwendungsbereiche moderner Hirnforschung, die längst den Bereich der Science-Fiction verlassen haben. Gerade, wenn noch künstliche Intelligenz ins Spiel kommt, lassen sie menschenrechtliche Herausforderungen erahnen, die eine gänzlich neue Qualität aufweisen. Diese Dimension erreicht nun auch den Neurorechtsdiskurs, der lange Zeit eher in bestimmten Nischen geführt wurde. Durch eine neue Initiative der UNESCO werden hier indes die Karten in Teilen neu gemischt. Denn die derzeit in Ausarbeitung befindliche "Erklärung zur Ethik der Neurotechnologie" wird aller Voraussicht nach wie ein Völkerrechtsdokument strukturiert sein und zahlreiche Themenfelder abdecken, die originär rechtlicher Natur sind. Als ethisch relevant werden insbesondere die Bereiche geistige Integrität und Menschenwürde, persönliche Identität und psychologische Kontinuität, Autonomie, geistige Privatsphäre sowie Zugang und soziale Gerechtigkeit erachtet. Dabei werden insbesondere die Reichweite der Gedankenfreiheit ("freedom of thought"), aber ebenso die rechtlichen Konsequenzen eines möglichen neurotechnologischen Enhancements, also einer Optimierung von Menschen, erörtert.

Da sich die UNESCO in den vergangenen Jahrzehnten durch Verabschiedung der "Allgemeinen Erklärung über das menschliche Genom und die Menschenrechte" (1997), der "Internationalen Erklärung über humangenetische Daten" (2003), sowie der "Allgemeinen Erklärung zur Bioethik und zu den Menschenrechten" (2005) weltweit als bioethischer Hauptdarsteller etabliert hat, sind die entsprechenden Arbeiten nur konsequent. Dass seit Verabschiedung des letzten vergleichbaren Dokuments zwei Jahrzehnte verstrichen sind, dürfte die politische Bedeutung unterstreichen, die den Neurowissenschaften seitens der UNESCO beigemessen wird. Zwar handelt es sich bei den entsprechenden Erklärungen "nur" um dem "soft law" zuzurechnende Dokumente. Indes lehrt die Vergangenheit, dass die entsprechenden Initiativen der UNESCO auf der Ebene supranationaler und nationaler Gesetzgebung durchaus Wirkung entfalten. Die Aktivitäten der UNESCO werden daher wohl an der Regulatorik der EU und folglich auch am deutschen Rechtsrahmen nicht spurlos vorübergehen.

Der Autor Prof. Dr. Dr. Tade Spranger ist Rechtsanwalt bei Rittershaus in Mannheim. Seine Fachgebiete sind das Recht der Modernen Lebenswissenschaften und das Öffentliche Recht. Er berät Unternehmen, Regulierungsbehörden, Forschungseinrichtungen und Verbände insbesondere bei der Bewertung neuester technischer Entwicklungen. Er ist außerdem an den Universitäten in Bonn (Öffentliches Recht und Recht der Biotechnologie) und in Düsseldorf (Medizinrecht) in der Lehre tätig.

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. Tade Spranger, 27. September 2024.