Neue Medien: "Ein staatlich kontrolliertes soziales Netzwerk gehört verboten"
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Für den 74. Juristentag hat Hubertus Gersdorf untersucht, wie neue Medien die Kommunikation und das Recht verändern. Er sieht viele Menschen für die Demokratie schon verloren, warnt vor staatlicher Propaganda im Netz und fordert mehr Fokus auf Information in öffentlich-rechtlichen Medien.

beck-aktuell: Herr Gersdorf, sind Sie eigentlich selbst in den sozialen Medien unterwegs?

Gersdorf: Ich denke, wer Professor für Medienrecht ist, sollte auch dort unterwegs sein, worüber er sich wissenschaftlich Gedanken macht. Selbstverständlich bin ich daher in den sozialen Netzwerken vertreten, aber ich versuche, das wirklich nur für meine beruflichen Zwecke zu nutzen.

beck-aktuell: Sie haben sich in Ihrem Gutachten zum diesjährigen Deutschen Juristentag mit den Herausforderungen der modernen Massenkommunikation für die demokratische Gesellschaft und für unser Rechtssystem beschäftigt. Wenn Sie könnten, würden Sie die Uhr lieber zurückdrehen in die Zeit vor TikTok und Co.?

Gersdorf: Nein, auf gar keinen Fall. Erstens kann niemand die Uhr zurückdrehen, außerdem wünsche ich mir das auch nicht. Alle technischen Innovationen bergen Chancen, aber eben auch Risiken. Und das Internet eröffnet ganz neue Kommunikationsformen. Das Entscheidende an der Internetkommunikation ist, dass jedermann daran teilnehmen kann. Das war früher nicht so. Da konnte man vielleicht ein paar Flugblätter verteilen, aber Rundfunk – das heißt: audiovisuelle Inhalte – war nur großen Medienkonzernen oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vorbehalten. Das Gleiche gilt für Zeitungen und Zeitschriften. Nun aber kann jeder an der Massenkommunikation teilnehmen. Da gibt es erhebliche Gefahren.

beck-aktuell: Welche Gefahren meinen Sie konkret?

Gersdorf: Ich darf das vielleicht erst einmal aus Sicht des Staates beschreiben: In der Vergangenheit war der Staat auf die klassischen Medien angewiesen, er brauchte sie, um seine Botschaften bei der Bevölkerung zu platzieren. Jetzt kann er sich selbst über soziale Plattformen darstellen. Da ergeben sich enorme Gefahren, die wir nicht unbedingt in Deutschland, aber schon im europäischen Ausland beobachten. Viele autokratische Staaten suchen gar nicht mehr das Gespräch mit dem kritischen Journalismus, sondern setzen auf Selbstdarstellung auf ihrer eigenen Plattform und bedienen sich der genehmen öffentlich-rechtlichen Medien, auf die sie Einfluss haben. Es gibt in solchen autokratischen Staaten zwar noch freie Wahlen, aber sie beruhen nicht mehr auf Chancengleichheit, weil die Opposition in der Massenkommunikation teilweise überhaupt nicht mehr vorkommt oder sogar systematisch bekämpft wird. Das zeigt, dass die Unabhängigkeit der Medien konstituierend für unsere Demokratie ist.

"Dann hat man viele Menschen schon verloren"

beck-aktuell: Sehen Sie den öffentlichen Diskurs und die Freiheit der Medien eher durch Staaten oder durch die Plattformbetreiber gefährdet?

Gersdorf: Sowohl als auch. Aber weniger die Betreiber sind die Gefahr, sondern die Kommunikationsmöglichkeiten, die nun existieren. Diejenigen, die sich nicht mehr von den klassischen Medien angesprochen fühlen, weichen aus. Das können wir klar feststellen, auch in Deutschland. Ein großer Teil der Bevölkerung sieht sich nicht mehr repräsentiert in den klassischen Medien. Wir können das auch deutlich benennen: Das sind Anhänger der AfD. Wir können nachweisen, dass gleichwohl eine Kommunikation stattfindet. Aber die Informationen, die sich diese Zielgruppe sucht, findet man in den sozialen Netzwerken, insbesondere bei TikTok. Es gibt also parallele Kommunikationswelten und so gehen einige Bevölkerungsteile, weil sie die Medien gar nicht mehr rezipieren, auch unserer Demokratie verloren. 

beck-aktuell: Ist das auch der Grund für Ihre Forderung, den Markenkern des öffentlichen Rundfunks durch stärkere Schwerpunktsetzung in Richtung von Information und Bildung zu stärken?

Gersdorf: Wenn man erst einmal einen Teil der Bevölkerung verloren hat, insbesondere dieser besagte Teil öffentlich-rechtliche Sender nicht mehr schaut, dann kann man das öffentlich-rechtliche System beliebig ausbauen, aber man hat viele Menschen schon verloren.

"Ich wünsche mir weniger Spielfilme"

beck-aktuell: Dennoch betonen Sie die Bedeutung des professionellen Journalismus für die Demokratie.

Gersdorf: Im Zeitalter des Internets, das da auch dadurch gekennzeichnet ist, dass jedermann an der Kommunikation teilnehmen und damit auch Fake-News verbreiten kann, ist der professionelle Journalismus umso wichtiger. Aber diese demokratiestabilisierende Funktion wird in erster Linie über Informationsprogramme realisiert und weniger über Unterhaltung. Die Unterhaltung ist wichtig, um das System insgesamt attraktiv zu halten, aber der Anker für unsere Demokratie liegt in Informationsangeboten. Deswegen halte ich es für unverzichtbar, den Sektor der Information im öffentlich-rechtlichen Mediensystem stärker auszubauen und einen klaren Akzent zugunsten von Information, Bildung und Kultur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu setzen.

beck-aktuell: Glauben Sie, dass die klassischen Medien und der öffentliche Rundfunk in Zukunft noch diese Anker sein können, wenn immer weniger Leute deren Inhalte konsumieren und sich gerade die jüngere Generation anderen Medienformen zuwendet?

Gersdorf: Es ist sicherlich richtig, dass das lineare Rundfunkprogramm weiter an Bedeutung verlieren wird.  Wer den öffentlich-rechtlichen Rundfunk stärken möchte, muss deswegen selbstverständlich auch den Telemediensektor stärken. Doch auch dort wünsche ich mir dann weniger Spielfilme.

"Jeder ist jetzt Träger der Rundfunkfreiheit"

beck-aktuell: In Ihrem Gutachten für den Deutschen Juristentag schreiben Sie, das Verständnis der Rundfunkfreiheit als "dienende Freiheit" bedürfe der Korrektur, die Rechtsprechung des BVerfG sei angesichts der modernen Kommunikation aus der Zeit gefallen. Meinen Sie damit, dass sich YouTuber auf die Rundfunkfreiheit berufen können?

Gersdorf: Massenkommunikationsfreiheiten sind heute zu Jedermannfreiheiten geworden. Und weil das so ist, gibt es keinen Grund, Rundfunk- und Pressefreiheit anders zu bewerten als das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit. Jeder hat jetzt die Möglichkeit, über das Internet oder audiovisuelle Inhalte verbreiten. Damit bin auch ich eindeutig Träger des Grundrechts der Rundfunkfreiheit, aber nehme keine "dienende Freiheit" mehr wahr, sondern eine Freiheit, die in meinem Interesse, aber natürlich auch im Interesse der Demokratie, unter dem besonderen Schutz unserer Verfassung steht.

beck-aktuell: Sie warnen in Ihrem Gutachten davor, dass der Staat mit seinen Ressourcen zu stark in die neue Medienlandschaft übergreifen könnte. Sehen Sie dafür auch eine Gefahr an Deutschland?

Gersdorf: Ich sehe vor allem deswegen eine Gefahr, weil nichts geregelt ist, weder im deutschen noch im europäischen Recht. Zwar ist es dem Staat verboten, klassischen Rundfunk zu verbreiten. Für Telemedien hingegen fehlt in der Bundesrepublik Deutschland jedwede Regelung, auch im Medienstaatsvertrag findet sich dazu nichts.

"Soziale Netzwerke wirken an der Kommunikation mit"

beck-aktuell: Wechseln wir einmal die Ebene: Der europäische Gesetzgeber hat zuletzt die Regularien für den digitalen Raum kräftig ausgebaut und modifiziert. In den vergangenen zwei Jahren sind mit dem Digital Services Act (DSA), dem Digital Markets Act (DMA) und dem AI-Act drei große Gesetzespakete in Kraft getreten, die Regelungen für neue Kommunikationsformen im Internet enthalten. Hat die EU damit ihren Job aus Ihrer Sicht erledigt?

Gersdorf: Erst einmal ist es zu begrüßen, dass es nun diese Verordnungen gibt. Die Europäische Union hat die Betreiber sozialer Netzwerke durch den DSA in die Pflicht genommen und versucht, die unterschiedlich grundrechtlichen Schutzgüter, die in sozialen Netzwerken in Konflikt geraten können, zu einem sachgerechten Ausgleich zu bringen. Ich habe nur versucht, in meinem Gutachten deutlich zu machen, dass es gleichwohl noch gewisse Regelungslücken gibt.

beck-aktuell: Was meinen Sie damit?

Der DSA hat die Tradition, die man mit der E-Commerce-Richtlinie gesetzt hat, eigentlich nur fortgeführt, also im Wesentlichen eine Haftungsfreistellung der Netzwerkbetreiber begründet. Hierbei wird übersehen, dass die sozialen Netzwerke nicht nur Hosting-Provider sind, also Inhalte im Interesse der Nutzer speichern. Nein, sie wirken an der Kommunikation mit, sie sortieren und ordnen die Kommunikation, weisen also einen erheblichen Bezug zu den Inhalten auf. Deshalb hätte ich mir eine weitergehende Haftung vorstellen können.

"Wir brauchen eine unabhängige Kontrolle über die sozialen Netzwerke"

beck-aktuell: Die Kernfrage ist und bleibt dabei, ob ein Inhalt überhaupt rechtswidrig ist. Wer soll das nach dem DSA beurteilen?

Gersdorf: Richtig, der Begriff "rechtswidrige Inhalte" ist der Schlüsselbegriff des DSA. Aber es wird nicht klargestellt, wonach sich die Rechtswidrigkeit bestimmt. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens, nach dem Recht des Staates, aus dem der Anbieter sendet, also das Herkunftsland-Prinzip. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass es auf die Sicht des Verletzten ankommt. Ich habe mir dazu aber sehr viele Gedanken gemacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das Bestimmungslandprinzip gilt, im Gegensatz zur E-Commerce-Richtlinie, nach der das Herkunftslandprinzip das tragende Prinzip war. Wenn also ein Inhalt über Facebook verbreitet wird, kommt es nicht darauf an, ob nach irischem Recht eine Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegt, sondern es kommt, wenn es um einen Betroffenen geht, der in Deutschland ansässig ist, auf das deutsche Recht an. Das hat zur Folge, dass das einfache deutsche Recht in solchen Fällen zur Anwendung kommt und auch, dass die Rechte aus dem Grundgesetz insoweit heranzuziehen sind.

beck-aktuell: Was sehen Sie am DSA noch kritisch?

Gersdorf: Die Aufsicht über die großen Plattformbetreiber wie YouTube, TikTok, Instagram oder Facebook liegt in den Händen der Kommission. Und wenn Sie so wollen, ist die Kommission die Regierung der Europäischen Union. Wenn Regierungen die Aufsicht über die Kommunikation in sozialen Plattformen übernehmen, drohen die Gefahren, die wir in Deutschland unter dem Stichwort Staatsferne der Medien diskutieren. Doch dieser Grundsatz gilt komischerweise nicht für die EU. Die Kommission könnte etwa gegen Plattformbetreiber besonders vorgehen, wenn ihr deren Kommunikationsinhalte nicht gefallen. Wir brauchen deshalb eine von der Kommission unabhängige Kontrolle über die sozialen Netzwerke.

beck-aktuell: In den USA gibt es seit einiger Zeit eine starke Debatte darüber, ob man TikTok verbieten sollte. Wie verfolgen Sie aus einer europäischen Perspektive diese Diskussion? 

Gersdorf: Es geht dabei darum, hinter die Kulissen eines sozialen Netzwerkes zu schauen und zu prüfen, wer eigentlich dessen Träger ist und wer Einfluss nehmen kann auf dieses Unternehmen. Und wenn – ich spekuliere jetzt einfach mal – die Volksrepublik China bei TikTok erhebliche Steuerungsmöglichkeiten hätte, dann wäre das ein staatliches soziales Netzwerk. Und ein solches staatliches soziales Netzwerk gehört ebenso verboten wie klassische staatliche Medien. Aber die erforderlichen Regelungen haben wir weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Europäischen Union. 

Diese Schutzlücken müssen unbedingt geschlossen werden. Wir brauchen eine klare Regelung, dass dem Staat die Veranstaltung von Medien, Rundfunk, Presse, aber auch der Betrieb von sozialen Netzwerken untersagt ist. Und wir brauchen eine effektive Kontrolle, um in Erfahrung bringen zu können, wer hinter sozialen Netzwerken steckt. 

beck-aktuell: Herr Gersdorf, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeit!

Prof. Dr. Hubertus Gersdorf ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig.

Das Interview führte Maximilian Amos.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 24. September 2024.