Ne bis in idem – oder etwa doch?
ne_bis_in_idem_CR_NTheiss_adobe
© N. Theiss / stock.adobe.com
ne_bis_in_idem_CR_NTheiss_adobe

Eine aktuelle Entscheidung des Landgerichts Verden treibt derzeit die deutsche Juristenwelt um. Erstmals wurde die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gegen einen freigesprochenen Angeklagten für zulässig erklärt. 1983 wurde Ismet H. vom Vorwurf der Vergewaltigung und der Ermordung einer 17-Jährigen rechtskräftig freigesprochen. Seit Ende Februar sitzt er wegen desselben Tatvorwurfs erneut in Untersuchungshaft. Wir nehmen den Fall zum Anlass, einen Überblick über die aktuelle Rechts- und Meinungslage zu geben.

Neue Wiederaufnahmevorschrift in StPO

Nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Ne bis in idem – nicht zweimal in derselben Sache. So manche lateinische Grundsätze sind in Juristenköpfen als unumstößliche Wahrheiten des deutschen Strafrechts fest verankert. Letztere gilt in ihrer Absolutheit aber seit kurzem nicht mehr. Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat zwei Mal strafrechtlich belangt werden darf, ist zwar nach wie vor verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 3 GG verankert. Die Große Koalition hat in ihrer letzten Legislaturperiode jedoch eine neue Ausnahmevorschrift in die Strafprozessordnung eingeführt, nach welcher die Wiederaufnahme bereits abgeschlossener Strafverfahren künftig unter erleichterten Voraussetzungen möglich ist. Während bislang eine Wiederaufnahme nur in Härtefällen wie einer zugunsten des Freigesprochenen gefälschten Urkunde oder eines Geständnisses desselben im Sinne sogenannter "Grenzkorrekturen" möglich war, sieht § 362 Nr. 5 StPO nunmehr die Möglichkeit einer Wiederaufnahme bei besonders schweren Delikten wie Mord oder Völkermord bereits dann vor, wenn aufgrund nachträglich verfügbarer Beweismittel eine Verurteilung sehr wahrscheinlich ist.

Der Fall Ismet H. – alte DNA-Spuren mittels neuer Technik ausgewertet

Ebensolche neuen Beweismittel haben unlängst dazu geführt, dass sich nun erstmals ein Freigesprochener vor einem deutschen Strafgericht erneut wegen derselben Tat verteidigen muss. 1982 wurde Ismet H. zunächst wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und Tötung der 17-jährigen Frederike von Möhlmann vom LG Lüneburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Der BGH hatte das Urteil jedoch aufgehoben und an das LG Stade verwiesen, welches den Angeklagten ein Jahr später freisprach. Im Jahr 2012 wurde eine molekulargenetische Untersuchung von damals gefundenen Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip des Opfers durchgeführt. Diese DNA-Spuren ließen sich – so jedenfalls das Hauptgutachten – eindeutig Ismet H. zuordnen. Da jedoch weder ein Geständnis von Ismet H. noch eine andere der engen Voraussetzungen von § 362 StPO a.F. vorlag, wurde das Verfahren zunächst nicht wiederaufgenommen. Aufgrund der zwischenzeitlich geänderten Gesetzeslage hat das LG Verden den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme nunmehr für zulässig erklärt und zudem wegen Fluchtgefahr Untersuchungshaft angeordnet.

Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit?

Der CDU-Politiker Jan-Marco Luczak zeigte sich über die Entscheidung des LG erfreut. "Später Sieg der Gerechtigkeit", schreibt er auf Twitter, und weiter: "mutmaßlicher Mörder aufgrund von CDU/CSU durchgesetzten Gesetzes erneut festgenommen - Wiederaufnahme bei solch exzeptionellen Unrechts notwendig um Rechtsfrieden zu schaffen". Demgegenüber sprachen Vertreterinnen und Vertreter der Initiative "nichtzweimal" gegenüber LTO von einem "schwarzen Moment für den Rechtsstaat". Die Initiative hatte bis zum Schluss vergeblich gegen eine Einführung des neuen § 362 Nr. 5 StPO gekämpft. Bereits im Koalitionsvertrag 2017/2018 hatten Union und SPD vereinbart, ein entsprechendes Gesetz zu erlassen. Mit dem "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" haben sie diesen Plan am Ende ihrer letzten Legislaturperiode schließlich gegen den erbitterten Widerstand zahlreicher Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Anwaltschaft in die Tat umgesetzt. Das Gesetz wurde am 21.12.2021 erlassen und trat am 30.12.2021 in Kraft.

Neue Wiederaufnahmeregel hoch umstritten

"Schlägt das Gefühl die Ratio - oder kann diese das Gefühl noch einhegen?", hatte Stefen Conen, Rechtsanwalt und Mitglied im Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins im Rahmen einer Anhörung vor dem Bundesrats-Rechtsausschuss im September 2021 gefragt, in der sich die Länder Thüringen, Hamburg, Berlin und Sachsen dafür stark gemacht hatten, den Vermittlungsausschuss zwischen Länderkammer und Bundestag anzurufen – ohne Erfolg. Auch eine abstrakte Normenkontrolle, die nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages möglich ist, war entgegen Conens Hoffnung nicht durchgeführt worden. Schließlich hatte Bundespräsident Steinmeier zwar verfassungsrechtliche Zweifel an dem Gesetz insbesondere im Hinblick auf das Verbot der Mehrfachverfolgung (Art. 103 Abs. 3 GG) und des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Rückwirkungsverbot geäußert, es letztlich aber trotzdem unterzeichnet. Gleichzeitig hatte er angeregt, das Gesetz erneut parlamentarisch zu überprüfen.

Karlsruhe bleibt momentan außen vor

Eine derartige Überprüfung hat das LG Verden nun aber nicht abgewartet, obwohl Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zwischenzeitlich selbst verfassungsrechtliche Bedenken an den neuen Regeln geäußert und dafür plädiert hatte, diese nochmal unter die Lupe zu nehmen. Außerdem entschied sich das Gericht dagegen, eine konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vor dem Bundesverfassungsgericht anzustrengen. Der Kammer seien die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm des § 362 Nr. 5 StPO zwar bekannt, heißt es in dem zugrundeliegenden Beschluss, sie sei jedoch nicht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt. Anders die Hamburger Strafverteidigerin Gül Pinar. Sie glaubt, die Politik werde es nicht bei unverjährbaren Delikten belassen und fürchtet insofern einen Dammbruch. Schon jetzt geht die beschlossene Ausweitung deutlich weiter als geplant. Nicht mehr nur neue technische Möglichkeiten, sondern überhaupt jedes neue Beweismittel kann künftig dazu führen, dass ein Strafverfahren wieder aufgerollt wird, etwa die nachträgliche Freigabe der Aussagegenehmigung für eine V-Person durch eine Behörde oder eine ursprünglich verweigerte Auskunft eines früheren Partners nach dem Scheitern der Ehe. "Ein freisprechendes Urteil ist künftig nur noch ein Zwischenurteil - ein Freigesprochener muss lebenslang damit rechnen, ihm könne doch noch etwas passieren“, so Pinar. Wie das neu aufgerollte Verfahren gegen Ismet H. ausgeht, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass es in die juristischen Lehrbücher eingeht.

Miriam Montag, Redaktion beck-aktuell, 7. März 2022.