Am 18. Februar 2025 starb Claus Roxin in seinem 94. Lebensjahr. Mit ihm verliert die Rechtswissenschaft eine ihrer herausragendsten Persönlichkeiten und einen der einflussreichsten deutschen Strafrechtler der Gegenwart. Er war nicht nur einer der bedeutendsten Strafrechtsdenker der letzten Jahrzehnte, sondern auch ein Lehrer, dessen Ideen Generationen von Juristinnen und Juristen prägten. Sein Werk, seine Theorien und seine Leidenschaft für Gerechtigkeit hinterlassen auf diese Weise ein Vermächtnis, das die Rechtsordnung weit über seine Zeit hinaus prägen wird.
Als Befürworter eines funktionalen Strafrechtssystems und als zentraler Vordenker einer normativen Strafrechtsdogmatik hat Roxin das Strafrecht nicht nur weiterentwickelt, sondern er hat es neu gedacht. So hat er mit seiner in 11. Auflage erschienenen Habilitationsschrift zu "Täterschaft und Tatherrschaft" die Beteiligungslehre auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Sein Ansatz zur Zurechnung strafrechtlicher Verantwortung in komplexen Strukturen beeinflusste dabei unter dem Schlagwort der Organisationsherrschaft nicht nur die deutsche Rechtsprechung, sondern übte seinen Einfluss weltweit auf die internationale Strafgerichtsbarkeit aus.
Lehrbücher mit großer Tiefe und sprachlicher Eleganz
Roxins Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des Strafrechts sind mehr als nur Lehrbücher – sie sind Meisterwerke der juristischen Literatur. Mit klarer Sprache, systematischer Tiefe und einer beeindruckenden Verbindung von Theorie und Praxis gelang es Roxin in seinen beiden groß angelegten Bänden, die komplexen Strukturen des Allgemeinen Teils des Strafrechts zugänglich und verständlich zugleich zu machen. In ihnen zeichnen sich seine Darlegungen durch eine einzigartige Balance zwischen dogmatischer Präzision und praxisnaher Anschaulichkeit aus. Dabei verstand es Roxin wie kein anderer, die Grundlagen des Strafrechts – von der Handlungslehre über die Lehre vom Tatbestand, der Rechtswidrigkeit und der Schuld bis hin zur Strafbarkeit des Versuchs und der Beteiligung – in einer Weise darzustellen, die sowohl für Praktiker und Wissenschaftler als auch für Studierende gleichermaßen wertvoll ist. Seine Lehrbücher sind dadurch nicht nur ein Spiegel seiner eigenen dogmatischen Genialität, sondern auch ein lebendiges Forum, in dem er Diskussionen und Entwicklungen der Strafrechtswissenschaft kritisch reflektierte und weiterentwickelte. Seine beiden Lehrbücher bilden damit ein bleibendes Denkmal für eine an den Maßstäben von Klarheit und Tiefe orientierte Rechtswissenschaft sowie für eine beispiellose sprachliche Eleganz der juristischen Darstellung.
Sein wissenschaftliches Wirken wurde mit zahlreichen Ehrungen gewürdigt, darunter nahezu 30 Ehrendoktorwürden renommierter Universitäten in Europa, Lateinamerika und Asien. Darüber hinaus wurde er, um nur einige der Anerkennungen zu nennen, mit der Beccaria-Medaille in Gold sowie mit dem großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Zudem war er seit 1994 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Eine Vorlesung als Erlebnis
Doch Roxin war nicht nur ein hoch angesehener und herausragender Wissenschaftler, sondern auch ein charismatischer Lehrer, der das Strafrecht nicht als substanzlose und abstrakte Theorie, sondern in erster Linie als lebendige und gesellschaftsrelevante Materie verstand. Seine beeindruckendste Bühne in der Lehre war vor allem die Große Vorlesung. Wer diese Vorlesungen einmal erlebt hat, der vergisst sie nie. Weil man spürte, dass in ihm die Leidenschaft brannte, die er auch in anderen entfachen wollte. Er selbst war begeistert von dem Stoff, den er vermittelte und er begeisterte Generationen von Studierenden durch eine mit Händen greifbare Anschaulichkeit und rhetorische Perfektion. Dabei hatte er die unerreichte Fähigkeit, schwierigste Probleme im Vortrag einfach darzustellen. Es sind die Bilder, die in Erinnerung bleiben: Aus dem Täter wurde der Spitzbube, aus Zyankali die Giftsuppe und aus der Bombe die Höllenmaschine. Seine Lehre an der Göttinger und Münchener Universität fand ihr Pendant im Ausland, ob in Gastvorträgen, als Honorarprofessor oder als Gastredner: Claus Roxin suchte die Welt des Strafrechts – und die Welt des Strafrechts suchte ihn.
Seine Vorlesungen und Vorträge zeichneten sich durch eine seltene Mischung aus dogmatischer Tiefe und praktischer Anwendbarkeit aus. Er hatte die Gabe, die Lösung komplexester strafrechtlicher Probleme in klare, präzise Worte zu fassen – ein Talent, das ihn nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu einem hochgeschätzten Gelehrten und Redner machte. Bei alldem war das Recht für Roxin niemals nur blanke Dogmatik, sondern ein Instrument der Gerechtigkeit, dessen Einsatz Umsicht und Bedachtsamkeit erfordert, weil er sich bewusst war, dass die dem Juristen verliehene Freiheit der Rechtsanwendung vor allem Verantwortung voraussetzt.
Persönlich: Integrität, Bescheidenheit und Milde
Aber Claus Roxin hat nicht nur in Wissenschaft und Lehre seine Spuren hinterlassen, sondern auch im persönlichen Umgang. Seine Kollegen und Schüler verehrten ihn nicht nur für seinen brillanten Verstand, sondern auch für seine Integrität, seine Bescheidenheit und seine Herzlichkeit. Wer ihm begegnete, spürte seine Menschlichkeit und Milde. Nie ließ er ein böses Wort fallen, nie war da Härte oder Ungeduld – nur Verständnis und eine stille, aber tiefe Freundlichkeit. Und vor allem machte er sich selbst nicht wichtig, obwohl er es für viele Menschen war. Seine Sprechstunden, anlässlich derer sich Schlangen von Interessenten bildeten, waren dafür ein beredtes Zeugnis.
Mit dem Tod von Claus Roxin verliert die Rechtswissenschaft eine ihrer prägendsten Figuren. Doch sein geistiges Erbe bleibt. Seine Bücher, seine Lehren und seine Ideen werden weiterhin die strafrechtliche Diskussion nachhaltig beeinflussen – nicht nur in Deutschland, sondern überall dort, wo das Recht im Dienst der Gerechtigkeit steht. Sein Name und sein Wirken werden daher unvergessen bleiben und es erfüllt mich mit Dankbarkeit und Stolz, zu seinen Schülern zu zählen!
Prof. Dr. Christian Jäger, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg