Nach Karlsruher EZB-Urteil: Von der Leyen erwägt Verfahren gegen Deutschland
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Nach dem umstrittenen Bundesverfassungsgerichts-Urteil zur Europäischen Zentralbank prüft EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Dies geht aus einem Brief von der Leyens an den Grünen-Europapolitiker Sven Giegold hervor, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Die Karlsruher Richter hatten die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der EZB beanstandet und sich damit erstmals gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs gestellt.

EU-Kommission prüft Vertragsverletzungsverfahren

Anders als der Europäische Gerichtshof entschied das BVerfG am 05.05.2020, die EZB habe ihr Mandat mit den milliardenschweren Ankäufen überspannt (BeckRS 2020, 7327). Das billigende EuGH-Urteil nannten die Karlsruher Richter "objektiv willkürlich" und "methodisch nicht mehr vertretbar". Giegold hatte die EU-Kommission deshalb aufgefordert, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten. Von der Leyen bekräftigte in ihrer Antwort an den Europaabgeordneten, das deutsche Urteil werde derzeit genau analysiert, fügte aber bereits an: "Auf der Basis dieser Erkenntnisse prüfen wir mögliche nächste Schritte bis hin zu einem Vertragsverletzungsverfahren."

Von der Leyen: Währungspolitik der EU ist ausschließliche Zuständigkeit

Das Urteil des Verfassungsgerichts werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten, heißt es in dem Schreiben. Die Währungspolitik der Union sei eine ausschließliche Zuständigkeit. EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht und Urteile des EuGH seien für alle nationalen Gerichte bindend. "Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg", schrieb von der Leyen. Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft, die die EU-Kommission jederzeit wahren und verteidigen werde.

Merkel: Heikle Situation, Lösung aber möglich

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält die Lage für schwierig, äußerte sich aber auch zuversichtlich hinsichtlich einer möglichen Lösung. In einer Videokonferenz des CDU-Präsidiums nannte die Kanzlerin das Urteil nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen heilbar, wenn die EZB ihr Vorgehen beim Ankauf von Staatsanleihen erläutere. Merkel habe eingeräumt, es sei eine heikle Situation, weil es Beifall für das Urteil von anderen europäischen Staaten gegeben habe. Die Kanzlerin forderte, der aktuellen Situation müsse von allen Seiten mit Klugheit begegnet werden. Merkel habe damit sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Union und die EZB gemeint, hieß es zur Erläuterung. Merkel habe betont, die Unabhängigkeit der EZB sei für Deutschland maßgeblich.

Deutliche Kritik aus der Politik an BVerfG-Urteil

Giegold, Sprecher der deutschen Grünen-Abgeordneten und Obmann der Grünen im Währungsausschuss des Europaparlaments, erklärte, der Streit zwischen Karlsruhe und Luxemburg bedrohe die europäische Rechtsgemeinschaft. "Das Bundesverfassungsgericht nötigt die Bundesbank sowie Bundesregierung und Bundestag in einen Konflikt mit der EZB", schrieb er. Deshalb müssten sich alle EU-Institutionen eindeutig hinter den Europäischen Gerichtshof stellen. Das Karlsruher Urteil wirke wie eine Einladung an Gerichte anderer Staaten, den Europäischen Gerichtshof zu umgehen, kritisierte Giegold. Auch die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley sprach in der "Passauer Neuen Presse" von einem fatalen Signal. Der Europarechtler Franz Mayer verglich das Urteil mit einer "Atombombe". EVP-Fraktionschef Manfred Weber warnte in der "FAS", die Entscheidung dürfe nicht dazu führen, dass Polen und Ungarn sich nicht mehr an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gebunden fühlten.

Lob aus Polen

Ausdrückliches Lob kam unterdessen bereits aus Polen. Bei der Entscheidung der Karlsruher Richter handle es sich um "eines der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union", schrieb der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki an die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS). Es sei vielleicht zum ersten Mal in dieser Klarheit gesagt worden: "Die Verträge werden von den Mitgliedstaaten geschaffen und sie bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen." In Polen baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EU-Recht verstießen. Wegen des jüngsten Gesetzes zur Disziplinierung von Richtern leitete die EU-Kommission Ende April 2020 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein.

Stimmen aus CSU begrüßen EZB-Urteil

Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt begrüßte das Karlsruher Urteil, weil es der EZB klar die Grenzen aufzeige. In Richtung des CSU-Politikers Weber sagte Dobrindt dem "Münchner Merkur" (Ausgabe vom 11.05.2020), das Europäische Parlament habe die Aufgabe, die Institutionen zur Einhaltung ihrer Kompetenzbereiche zu mahnen statt sie zu neuen Kompetenzüberschreitungen zu ermutigen.

Deutsche EZB-Direktorin: Notenbank wird Anleihekäufe fortsetzen

Unterdessen machte die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel deutlich, dass die EZB trotz des Urteils des BVerfG ihre Wertpapierkäufe fortsetzen werde. Dies geschehe im Einklang mit dem Mandat der EZB, sagte Schnabel der italienischen Tageszeitung "La Repubblica" (Ausgabe vom 11.05.2020). Sie betonte, dass nur der EuGH zuständig für die EZB und ihr Handeln sei. "Er entschied 2018, dass das PSPP legal ist", sagte die Notenbankerin. Zuvor hatte bereits EZB-Präsidentin Christine Lagarde deutlich gemacht, dass die EZB nach dem Urteil des BVerfG an ihrem Kurs festhalten wird. EZB-Direktorin Schnabel machte außerdem deutlich, dass die Zentralbank bereit sei, den Umfang des Notprogramms PEPP zur Eindämmung der Folgen der Corona-Krise "bei Bedarf" anzupassen.

Redaktion beck-aktuell, 11. Mai 2020 (dpa).