Mehr als eine Stunde vorverlegter Flug gilt als "annulliert"
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Ein Flug ist als annulliert anzusehen, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn um mehr als eine Stunde vorverlegt. Wurde ein bestimmter Flug gebucht, kann unter Umständen auch dann ein Ausgleichsanspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen bestehen, wenn ihm die Buchung nicht übermittelt wurde. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit mehreren Urteilen vom 21.12.2021 in verbundenen Verfahren entschieden.

Streit um Ausgleichsansprüche für Fluggäste

Das Landesgericht Korneuburg (Österreich) und das Landgericht Düsseldorf sind mit mehreren Rechtsstreitigkeiten zwischen Fluggästen sowie den Unternehmen Airhelp und Flightright auf der einen Seite und den Fluggesellschaften Azurair, Corendon Airlines, Eurowings, Austrian Airlines und Laudamotion auf der anderen Seite wegen Ausgleichsansprüchen der Fluggäste aufgrund der Vorverlegung ihres Fluges befasst. Die Gerichte ersuchten den Gerichtshof um eine Reihe von Klarstellungen zu den Voraussetzungen, unter denen Fluggäste einen Ausgleichsanspruch nach der Fluggastrechteverordnung geltend machen können.

EuGH: Flug gilt bei Vorverlegung um mehr als eine Stunde als annulliert

Der EuGH hat nunmehr klargestellt, dass ein Flug als annulliert anzusehen ist, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn um mehr als eine Stunde vorverlegt. In einem solchen Fall sei die Vorverlegung als erheblich anzusehen, da sie für die Fluggäste in gleicher Weise wie eine Verspätung zu schwerwiegenden Unannehmlichkeiten führen könne. Eine solche Vorverlegung nehme den Fluggästen die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihre Reise oder ihren Aufenthalt nach Maßgabe ihrer Erwartungen zu gestalten. So könne die neue Abflugzeit den Fluggast zwingen, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um seinen Flug zu erreichen. Es könne sogar sein, dass er, obwohl er alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen habe, das Flugzeug nicht nehmen könne.

Keine Kürzung der Ausgleichszahlung bei erheblicher Vorverlegung

Zudem müsse das ausführende Luftfahrtunternehmen im Fall einer erheblichen Vorverlegung des Fluges, die zu einem Ausgleichsanspruch führe, stets den Gesamtbetrag zahlen. Das Unternehmen habe nicht die Möglichkeit, die etwaige Ausgleichszahlung mit der Begründung, dass es dem Fluggast eine anderweitige Beförderung angeboten habe, mit der er sein Endziel ohne Verspätung habe erreichen können, um 50% zu kürzen. Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, dass nach der Verordnung im Fall einer mit dem Angebot einer anderweitigen Beförderung verbundenen Annullierung eines Fluges die Vorverlegung um eine Stunde oder weniger geeignet ist, das ausführende Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu einer Ausgleichszahlung an den Fluggast zu befreien. Für die Feststellung, ob die Vorverlegung erheblich oder unerheblich sei, komme es somit darauf an, ob sie mehr als eine Stunde oder weniger betrage.

Nicht nur Flugschein gilt als "bestätigte" Buchung 

Im Übrigen könne die vor Reisebeginn an den Fluggast gerichtete Mitteilung über die Vorverlegung des Fluges, ein Angebot einer anderweitigen Beförderung darstellen. Ein Fluggast, der einen Flug gebucht habe, verfüge nicht nur dann über eine "bestätigte Buchung", wenn er im Besitz eines Flugscheins sei, sondern auch dann, wenn er von dem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung stehe, einen anderen Beleg erhalten habe, durch den ihm die Beförderung auf einem bestimmten, durch Abflug- und Ankunftsort, Abflug- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug versprochen werde. Insoweit spiele es keine Rolle, ob das Reiseunternehmen von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen eine Bestätigung in Bezug auf die Abflug- und Ankunftszeit dieses Fluges erhalten habe. Von dem Fluggast könne nicht verlangt werden, dass er sich Informationen über die Beziehungen zwischen dem Reiseunternehmen und dem Luftfahrtunternehmen beschaffe.

Ausführendes Luftfahrtunternehmen kann Reiseunternehmen in Regress nehmen

Ferner könne ein Luftfahrtunternehmen im Verhältnis zu einem Fluggast als "ausführendes Luftfahrtunternehmen" eingestuft werden, wenn der Fluggast mit einem Reiseunternehmen einen Vertrag für einen bestimmten Flug dieses Luftfahrtunternehmens geschlossen habe, ohne dass das Luftfahrtunternehmen die Flugzeiten bestätigt habe und ohne dass das Reiseunternehmen bei dem Luftfahrtunternehmen eine Buchung für den Fluggast vorgenommen habe. Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das aufgrund eines Verhaltens des Reiseunternehmens den Fluggästen eine Ausgleichszahlung nach der Verordnung leisten müsse, habe die Möglichkeit, gegen das Reiseunternehmen Regressansprüche zu erheben.

"Planmäßige Ankunftszeit" muss nicht durch Flugschein belegt werden

Die bei der Prüfung, ob eine einen Ausgleichsanspruch begründende erhebliche Vorverlegung oder Verspätung vorliege, heranzuziehende "planmäßige Ankunftszeit" eines Fluges könne sich auch aus einem anderen Beleg als einem dem Fluggast vom Reiseunternehmen ausgestellten Flugschein ergeben. Im Fall der Nichtbeförderung oder der Annullierung von Flügen müsse das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggast darüber unterrichten, unter welcher genauen Unternehmensbezeichnung und Anschrift er eine Ausgleichszahlung verlangen könne und welche Unterlagen er seinem Verlangen gegebenenfalls beifügen solle. Es müsse den Fluggast jedoch nicht über den genauen Betrag der Ausgleichszahlung unterrichten, die er unter Umständen beanspruchen könne. Ob die Verpflichtung, den Fluggast rechtzeitig über die Annullierung seines Fluges zu unterrichten, eingehalten wurde, sei ausschließlich anhand der Verordnung über Fluggastrechte zu beurteilen und nicht anhand der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.

Zur Unterrichtung über Annullierung bei Buchung über Vermittler

Es sei davon auszugehen, dass ein Fluggast, der über einen Vermittler einen Flug gebucht habe, nicht über die Annullierung dieses Fluges unterrichtet worden sei, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen die Verständigung von der Annullierung dem Reisevermittler mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit übermittelt habe, der Vermittler den Fluggast aber nicht fristgerecht über die Annullierung unterrichtet habe und der Fluggast den Vermittler nicht ausdrücklich ermächtigt habe, die vom ausführenden Luftfahrtunternehmen übermittelten Informationen entgegenzunehmen.

EuGH, Urteil vom 21.12.2021 - C-146/20

Redaktion beck-aktuell, 21. Dezember 2021.