Ma­the­ma­ti­ker schlägt neues Mo­dell für Wahl­rechts­re­form vor

Im Dau­er­streit der Par­tei­en über eine Wahl­rechts­re­form zur Ver­klei­ne­rung des Bun­des­tags schlägt der Stutt­gar­ter Ma­the­ma­tik-Pro­fes­sor Chris­ti­an Hesse einen "All­par­tei­en-Kom­pro­miss" vor, der die drei bis­her vor­ge­schla­ge­nen Mo­del­le von CDU/CSU, SPD und FDP/Grü­nen/Lin­ken ver­bin­den soll. "Alle Par­tei­en müs­sen nur ge­ring­fü­gig von ihren Po­si­tio­nen ab­wei­chen und einen klei­nen Schritt auf­ein­an­der zu­ge­hen", sagte Hesse in Ber­lin.

Re­du­zie­rung der Wahl­krei­se, Än­de­rung des Sitz­kon­tin­gent­ver­fah­rens

Kon­kret schlägt der Ma­the­ma­ti­ker von der Uni­ver­si­tät Stutt­gart vor, die Zahl der Wahl­krei­se von der­zeit 299 auf 270 zu re­du­zie­ren und die Soll­grö­ße des Par­la­ments bei 598 Sit­zen zu be­las­sen. Eine Ober­gren­ze von Man­da­ten soll nicht ein­ge­zo­gen wer­den. Alle Über­hang­man­da­te sol­len wei­ter aus­ge­gli­chen wer­den. Ab­schaf­fen will der Ma­the­ma­ti­ker je­doch das Sitz­kon­tin­gent­ver­fah­ren in sei­ner der­zei­ti­gen Form. Es be­stimmt für jedes Bun­des­land nach der Be­völ­ke­rungs­zahl eine feste Min­dest­sitz­zahl, was im Er­geb­nis zu wei­te­ren Aus­gleichs­man­da­ten führt. Statt­des­sen sol­len die Min­dest­sitz­zah­len der Par­tei­en durch deren bun­des­wei­te Di­rekt­man­da­te be­stimmt wer­den.

Hesse: Fai­res Wahl­recht bei "mi­ni­ma­l­in­va­si­vem" Ein­griff

Hesse lei­tet die Ab­tei­lung für ma­the­ma­ti­sche Sta­tis­tik am In­sti­tut für Sto­chas­tik und An­wen­dun­gen der Uni Stutt­gart. Er be­fasst sich seit Jah­ren mit dem Wahl­recht, war bei­spiels­wei­se im Ver­fah­ren vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt 2012 Sach­ver­stän­di­ger. Der Ein­griff in das Wahl­recht wäre bei ihm "mi­ni­ma­l­in­va­siv", sagte Hesse. "Das ist vor­teil­haft, denn im Prin­zip ist das ak­tu­el­le Wahl­recht fair ge­gen­über allen Par­tei­en. Es er­kauft diese Fair­ness aber mit einem der­zeit gro­ßen Bun­des­tag. Das Kom­pro­miss-Model hat die­sel­ben Fair­ness-Ei­gen­schaf­ten bei einem klei­ne­ren Bun­des­tag."

Bun­des­tag wäre heute um 10% klei­ner

Bei­spiel­rech­nun­gen zei­gen laut Hesse, dass der Bun­des­tag mo­men­tan 639 statt 709 Man­da­te zäh­len würde, wenn be­reits bei der Wahl 2017 nach sei­nem Mo­dell ver­fah­ren wor­den wäre. "Das ist eine Ver­klei­ne­rung um zehn Pro­zent. Und diese Ver­klei­ne­rung würde alle Par­tei­en gleich­mä­ßig be­tref­fen. Jede Frak­ti­on ver­liert circa zehn Pro­zent ihrer Sitze." Bei An­wen­dung sei­nes Mo­dells schon bei der Wahl 2017 hätte die CDU heute 180 statt der­zeit 200 Sitze, die CSU 42 statt 46 und die SPD 138 statt 153. Die AfD-Frak­ti­on würde 85 statt der­zeit 94 Ab­ge­ord­ne­te zäh­len, die FDP-Frak­ti­on 72 statt 80, die Links­frak­ti­on 62 statt 69 und die Grü­nen-Frak­ti­on 60 statt 67 Ab­ge­ord­ne­te.

Re­form­vor­schlä­ge der Par­tei­en

Bis­lang lie­gen drei Kon­zep­te für eine Wahl­rechts­re­form vor – für kei­nes gibt es eine Mehr­heit. Hes­ses Mo­dell liegt ver­fah­rens­tech­nisch in der Mitte die­ser drei Kon­zep­te. Ein Ge­setz­ent­wurf von FDP, Grü­nen und Lin­ken sieht vor, die Zahl der Wahl­krei­se auf 250 zu re­du­zie­ren. Die Soll­grö­ße des Par­la­ments soll von der­zeit 598 auf 630 Man­da­te er­höht, das Sitz­kon­tin­gent­ver­fah­ren ab­ge­schafft wer­den. Die CDU/CSU-Frak­ti­on wäre be­reit, die Zahl der Wahl­krei­se auf 280 zu re­du­zie­ren und sie­ben Über­hang­man­da­te un­aus­ge­gli­chen zu las­sen. Die SPD schlägt ein­ma­lig eine Kap­pung ab einer Ober­gren­ze von 690 Ab­ge­ord­ne­ten vor, dar­über hin­aus­ge­hen­de Über­hang­man­da­te sol­len nicht zu­ge­teilt wer­den.

Zank­ap­fel Wahl­krei­se

Be­son­ders um­strit­ten ist die Re­du­zie­rung der Wahl­krei­se. Vor allem die CSU hatte dies jah­re­lang ab­ge­lehnt und eine Ei­ni­gung damit un­mög­lich ge­macht. Hesse er­läu­ter­te, dass nach sei­nem Mo­dell immer aus zehn Wahl­krei­sen neun ge­macht wer­den müss­ten. "Das wäre eine ma­ß­vol­le Ver­grö­ße­rung, die durch­aus noch im Rah­men des Ver­tret­ba­ren ist." Zumal sich ge­ra­de in der Co­ro­na-Krise zeige, dass man auch kom­mu­ni­zie­ren und Kon­takt hal­ten könne, ohne am Ort prä­sent zu sein.

Hesse: Wahl­krei­se per Al­go­rith­mus re­du­zie­ren

Die Re­du­zie­rung soll­te aus Hes­ses Sicht über einen ma­the­ma­ti­schen Al­go­rith­mus vor­ge­nom­men und so der po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung ent­zo­gen wer­den. "Der Al­go­rith­mus si­chert Neu­tra­li­tät und Trans­pa­renz." Er be­ach­te bei der Ein­tei­lung ei­ni­ge harte Kri­te­ri­en und ge­währ­leis­te zum Bei­spiel, dass ad­mi­nis­tra­ti­ve Gren­zen von kreis­frei­en Städ­ten und Land­krei­sen ein­ge­hal­ten wer­den oder dass Wahl­krei­se nicht über Län­der­gren­zen hin­weg gehen. Zudem be­ach­te er wei­che Kri­te­ri­en wie eine mög­lichst ge­rin­ge Ab­wei­chung in den Be­völ­ke­rungs­zah­len der Wahl­krei­se. "Damit kann der Bun­des­wahl­lei­ter die Neu­ein­tei­lung der Wahl­krei­se sehr schnell vor­neh­men", sagte Hesse.

Redaktion beck-aktuell, 21. Juli 2020 (dpa).

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