Kein SGB-II-Leistungsausschluss für Drittstaat-Halbgeschwister eines Deutschen

Familienangehörige eines Deutschen – hier: Halbgeschwister eines Minderjährigen –, die einen Aufenthaltstitel aus familiären Gründen besitzen oder zum Zweck des Familiennachzuges ein Visum erhalten haben, werden nicht vom Leistungssauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfasst. Dies hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen entschieden. Die Regelung sei mit Blick auf Zweck und Systematik einschränkend auszulegen.

Jobcenter lehnte SGB-II-Leistungen für ukrainische Halbgeschwister ab

Die Kläger und ihre Mutter besitzen die ukrainische Staatsangehörigkeit. Sie reisten im Juli 2015 als minderjährige Kinder zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Halbbruder, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, in die Bundesrepublik ein und lebten fortan mit dem Vater des Halbbruders zusammen. Während die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vom beklagten Jobcenter SGB II-Leistungen erhielten, lehnte es diese für die Kläger zunächst ab. Sie seien von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, da sie sich seit der Einreise noch nicht drei Monate in Deutschland aufgehalten hätten (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II). Sie seien auch keine Familienangehörigen im Sinn des FreizügG/EU eines im Haushalt lebenden deutschen Staatsangehörigen. Die Klage der Halbgeschwister dagegen war vor dem Sozialgericht Düsseldorf erfolgreich. Dagegen legte das Jobcenter Berufung ein.

LSG bestätigt SG

Das LSG hat die Berufung mit Ausnahme eines Teilzeitraumes, über den noch ein Widerspruchsverfahren durchzuführen ist, zurückgewiesen. Der Leistungsausschluss greife hier nicht ein. Zwar hätten sich die Kläger erst weniger als drei Monate im Bundesgebiet aufgehalten. Nach dem aus der Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck und systematischen Erwägungen habe die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen eines Familiennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik zögen, durch die Einführung des Leistungsausschlusses jedoch nicht beeinträchtigt werden sollen.

Leistungsausschluss einschränkend auszulegen

Die Vorschrift sei folglich dahingehend einschränkend auszulegen, dass der Familienangehörige eines Deutschen, der einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des AufenthG – Aufenthalt aus familiären Gründen – besitze oder dem zum Zweck des Familiennachzuges von einer deutschen Botschaft ein nationales Visum ausgestellt worden sei, von dieser Regelung nicht erfasst werde. Bei den Klägern als Halbgeschwister eines deutschen Staatsangehörigen habe es sich um Verwandte zweiten Grades eines minderjährigen Deutschen und damit um sonstige Familienangehörige in einer Seitenlinie im Sinn des AufenthG gehandelt. Ihnen sei zudem ein Visum zwecks Familiennachzuges erteilt worden.

LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.11.2020 - L 19 AS 212/20

Redaktion beck-aktuell, 26. Februar 2021.