Nach Selbstjustiz: Keine Opferentschädigung für erlittenes Unrecht

Eine Opferentschädigung ist unbillig und damit ausgeschlossen, wenn das Opfer unter Nichtbeachtung des staatlichen Gewaltmonopols Selbstjustiz übt. Es sei treuwidrig, unter Berufung auf das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu verlangen, dieses Gewaltmonopol aber zugleich aufgrund von Selbstjustiz nicht zu beachten, so die Argumentation des Landessozialgerichts Baden-Württemberg.

Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung

Der 1974 im Kosovo geborene Kläger reiste 1993 in das Bundesgebiet ein. Er ist Vater von vier minderjährigen Kindern und verheiratet. Im Dezember 2010 wurde er wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe und im Mai 2015 zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Laut Strafurteil vom Mai 2015 hatte der Kläger am 30.01.2014 seine Nachbarin im Treppenhaus mit den Worten "Jetzt bist Du dran!" gegen die Wand gedrückt und  ihr mit einem Klappmesser zwei lange Schnittwunden im Gesicht zugefügt. Er habe sich hierdurch für Geschehnisse am Vortag rächen und die Geschädigte einschüchtern wollen. Der genaue Ablauf einer tätlichen Auseinandersetzung vom Vortag, in welcher der Kläger und seine Nachbarin mit weiteren Personen in eine Schlägerei verwickelt waren, habe nicht aufgeklärt werden können.

Verurteilter Kläger begehrt erfolglos Opferentschädigung

Im Juni 2017 beantragte der Kläger Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), weil seine Nachbarin und weitere Personen am 29.01.2014 versucht hätten, ihn umzubringen. Deshalb leide er an Schnittwunden am Schädel, am Hals und am Ohr, einem Nasenbeinbruch und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das Land Baden-Württemberg lehnte den Antrag ab, weil nicht erwiesen sei, dass der Kläger einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff zum Opfer gefallen sei. Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Mit seiner Berufung hat der Kläger geltend gemacht, am 29.01.2014 von seiner Nachbarin und deren Familie sowie von weiteren Personen beleidigt und mit einem Messer tödlich bedroht worden zu sein. Die gefährliche Körperverletzung vom 30.01.2014 habe er nicht begangen, vielmehr habe sich die Nachbarin ihre Schnittwunden selbst zugefügt.

LSG: Schon Vorliegen eines Angriffs fraglich

Das LSG hat bestätigt, dass dem Kläger keine Entschädigung nach dem OEG zusteht: Es sei aufgrund der unterschiedlichen Zeugenaussagen und der widersprüchlichen Angaben des Klägers zum Geschehensablauf nicht nachgewiesen, dass dieser am 29.01.2014 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Insbesondere habe die zeitnah hinzugezogene Polizei kein gegen den Kläger verwendetes Messer sicherstellen können.

Keine Gewährung von OEG-Leistungen wegen Unbilligkeit

Im Übrigen sei die Gewährung von Leistungen nach dem OEG hier auch unbillig, so das LSG weiter. Der Staat habe ein Monopol für die Verbrechensbekämpfung und sei deswegen für den Schutz der Bürger vor Schädigungen durch kriminelle Handlungen, insbesondere durch Gewalttaten, im Bereich seines Hoheitsgebietes verantwortlich. Sinn und Zweck des OEG sei es, Opfer und deren Hinterbliebene für solche Gewalttaten zu entschädigen, die vielfach keinen ausreichenden Schadenersatz vom Täter erhalten könnten und infolge der Gewalteinwirkung in wirtschaftliche Not gerieten. Hier habe der Kläger aber durch seine Selbstjustiz das Monopol des Staates für die Verbrechensbekämpfung und für den Schutz seiner Bürger in hohem Maße missachtet. Es sei treuwidrig, unter Berufung auf das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols eine Entschädigung nach dem OEG zu verlangen, dieses Gewaltmonopol aber zugleich aufgrund der Selbstjustiz vom 30.01.2014 nicht zu beachten.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2021 - L 6 VG 815/20

Redaktion beck-aktuell, 25. November 2021.