Zahlungen eines Opfers an Liebes-Betrüger nicht sozialwidrig

Wird eine Frau durch Zahlungen an einen Heiratsschwindler mittellos, ist ihr Verhalten nicht als sozialwidrig anzusehen und führt nicht zum Ausschluss von Sozialleistungen. Grundsätzlich dürfen die staatlichen Stellen laut Landessozialgericht Baden-Württemberg nicht prüfen, ob die Hilfebedürftigkeit durch nachvollziehbares, naives oder moralisch verwerfliches Handeln entstanden ist. Die Grenze ist vielmehr erst da zu ziehen, wo Vermögen zielgerichtet verschwendet wird, um hilfebedürftig zu werden.

Jobcenter verlangt Leistungen zurück

Ein Jobcenter verlangte von einer 62-jährigen gelernten Bürokauffrau Erstattung von Hartz-IV-Leistungen wegen sozialwidrigen Verhaltens. Die Frau hatte einem Heiratsschwindler von November 2016 bis Januar 2017 insgesamt 24.000 Euro auf Auslandskonten gezahlt (sogenanntes Romance Scamming). Im Februar 2017 stellte sie einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe; im Jahr zuvor habe sie von Erspartem gelebt. Auf die ins Ausland transferierte Summe habe sie keinen Zugriff. Das Jobcenter bewilligte ihr vorläufig monatlich 770 Euro. Mit einem weiteren Bescheid stellte die Arbeitsagentur einen nicht bezifferten Ersatzanspruch nach § 34 SGB II hinsichtlich der bewilligten Leistungen fest: Der Frau hätte klar sein müssen, dass sie nach dem Transfer beziehungsweise der Auflösung ihres Vermögens in diesem Umfang und aufgrund fehlenden regelmäßigen Einkommens Leistungen nach dem SGB II würde beantragen müssen. Widerspruch und Klage vor dem Sozialgericht Heilbronn blieben erfolglos.

LSG Baden-Württemberg: Verhalten zwar nicht nachvollziehbar, aber nicht sozialwidrig

Die Berufung hatte vor dem LSG Baden-Württemberg Erfolg. Aus Sicht der Stuttgarter Richter ist ein für den Ersatzanspruch der Behörde nach § 34 Abs. 1 SGB II erforderliches sozialwidriges Verhalten der Frau nicht erkennbar. Darunter falle nur das vorsätzliche oder grob fahrlässige Herbeiführen der Hilfebedürftigkeit. Laut LSG ist es nicht  Aufgabe der staatlichen Stellen, ein moralisches Urteil über das zur Mittellosigkeit führende Verhalten zu fällen. Nicht jede Handlung müsse nachvollziehbar sein; die Grenze sei vielmehr erst da zu ziehen, wo Vermögen kausal zwecks Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit verschwendet werde. Anhaltspunkte hierfür lägen nicht vor. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die Betroffene selbst Opfer einer Straftat geworden war. Charakteristisch für Betrugsopfer sei insoweit, dass deren Verhalten für Außenstehende und im Nachhinein objektiv oft nicht nachvollziehbar sei. 

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.10.2020 - L 9 AS 98/18

Redaktion beck-aktuell, 16. Februar 2021.