Kein Merkzeichen RF für behinderungsbedingte Auffälligkeiten auf Veranstaltungen

Schwerbehinderte Menschen haben nicht deshalb einen Anspruch eine Ermäßigung der Rundfunkgebühren durch Zuerkennung des Merkzeichens RF, weil sie wegen behinderungsbedingter Auffälligkeiten öffentliche Veranstaltungen meiden wollen. Es widerspräche gerade dem Inklusionsgedanken, wenn durch Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit eine Teilnahme von behinderten Menschen begrenzt würde. Dies hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg entschieden. 

Klägerin begehrte Merkzeichen RF

Die Klägerin ist verheiratet und hat zwei Töchter. Im April 2016 erlitt sie einen Schlaganfall (Hirninfarkt). Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 und das Merkzeichen H (Hilflos) festgestellt sowie der Pflegegrad 3 anerkannt. Ihren Antrag, gemäß § 152 Abs. 5 SGB IX in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 5 SchwbAwV auch das Merkzeichen RF (Rundfunkgebührenermäßigung) festzustellen, weil sie öffentliche Veranstaltungen wie Theater- und Kinobesuche aufgrund lauter Schreie nicht mehr besuchen könne, lehnte das beklagte Land Baden-Württemberg ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Dagegen legte die Klägerin Berufung ein.

LSG: Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig unmöglich

Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Der Klägerin sei die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig unmöglich (§ 4 Abs. 2 RBStV). Dies wäre nur dann der Fall, wenn sie wegen ihres Leidens ständig, damit allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist. Maßgeblich sei dabei allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Hilfsmitteln, zum Beispiel einem Rollstuhl, und/oder mit Hilfe einer Begleitperson. Die Klägerin sei aber mit ihrem Rollstuhl und einer Begleitperson hinreichend mobil, um an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können.

Auffälliges Verhalten durch Behinderte hinzunehmen

Soweit sie durch ihre Halbseitenlähmung womöglich Blicke auf sich ziehe und selbst von störendem Verhalten berichte, komme es hierauf nicht an. Denn der auf die gesellschaftliche Teilhabe gerichtete Zweck des Merkzeichens "RF" würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn es mit dem Ziel zuerkannt werden könnte, besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen und damit Behinderte quasi wegzuschließen, also gerade ihre Teilhabe zu verhindern. Deshalb stehe das Merkzeichen auch besonders empfindsamen Behinderten nicht allein deshalb zu, weil sie die Öffentlichkeit um ihrer Mitmenschen willen meiden. Indem es gerade nicht darauf ankommen dürfe, inwieweit sich Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen durch Behinderte gestört fühlen, werde einer Ausgrenzung von schwerbehinderten Menschen und damit auch einer Diskriminierung entgegengewirkt.

Schwerbehinderter muss passende Veranstaltungen auswählen

Da der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein müsse, obliege es ihm, die Art der öffentlichen Veranstaltungen so auszuwählen, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, diesen Veranstaltungen weitestgehend folgen zu können. Dementsprechend reiche es nicht aus, dass sich die Klägerin gehindert sehe, Theaterveranstaltungen zu besuchen, weil sie den Abläufen nicht folgen könne, und Kinoveranstaltungen, weil sie durch aggressives Verhalten und laute Rufe auffalle, da sie sich mit den Schauspielern identifiziere.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.02.2021 - L 6 SB 3623/20

Redaktion beck-aktuell, 8. März 2021.