LSG Baden-Württemberg: Pflegegeld der Pflegestufe «0» setzt Grundpflegebedarf voraus

SGB XI §§ 45b, 123 i.d.F. bis 31.12.2016

Die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung wegen erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (sog. Pflegestufe „0") setzt sowohl nach § 45 b Abs. 1 Satz 1 SGB XI i.V.m. § 45 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB XI als auch nach § 45b Abs. 1a Satz 2 SGB XI in der vom 01. 01.2015 bis 31.12.2016 geltenden Fassung voraus, dass beim Versicherten überhaupt ein Grundpflegebedarf besteht. (Leitsatz der Verfasserin)

LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.10.2016 - L 4 P 2609/16, BeckRS 2016, 110224

Anmerkung von
Rechtsanwältin Christel von der Decken, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 12/2017 vom 23.06.2017

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Sachverhalt

Der Kläger beantragte Leistungen der Pflegestufe 0 und machte geltend, dass ein ambulanter Pflegedienst einmal wöchentlich Hausbesuche durchführt. Er erhalte Hilfe bei Einkäufen, Gesprächen und Blutdruckmessungen. Nach Einholung eines Gutachtens des MDK hat die Pflegekasse den Antrag und auch den Widerspruch zurückgewiesen mit der Begründung, dass bei dem Kläger keine Krankheit im Sinne d. §§ 14 und 15 SGB XI a.F. vorliege. Verrichtungen wie Spaziergänge oder Gabe von Arzneimitteln dürften bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht berücksichtigt werden. Die Voraussetzungen für zusätzliche Betreuungsleistungen nach §§ 45 b SGB XI lägen nicht vor, ebenso auch nicht die Voraussetzungen für das Pflegegeld der Pflegestufe 0 nach § 123 Abs. 2 SGB XI, da die Voraussetzungen nach § 45a SGB XI nicht erfüllt seien. Die Alltagskompetenz des Klägers sei nicht eingeschränkt. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht „nach Lage der Akten" abgewiesen und die Auffassung der beklagten Pflegekasse bestätigt. Zusätzlich wurde noch ausgeführt, dass im Bereich der Grundpflege kein Hilfebedarf bestehe. Das Blutdruckmessen zähle nicht zur Körperpflege, da die Hilfestellung bei der Dokumentation von Erkrankungen Teil der von der Krankenkasse geschuldeten Behandlungspflege sei. Das Tragen von schweren Einkäufen zähle nicht zum Hilfebereich der Mobilität, sondern sei Teil der hauswirtschaftlichen Versorgung. Das Führen von Gesprächen zähle ebenfalls nicht zum Bereich der Grundpflege, da die Kommunikation kein Bestandteil der Körperpflege, Ernährung oder Mobilität sei. Besondere Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach § 45b SGB können nicht beansprucht werden, da die weitere notwendige Voraussetzung, dass neben einem hauswirtschaftlichen Hilfebedarf auch ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege bestehe, nicht vorliege. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und u. a. geltend gemacht, dass er schon seit Jahrzehnten als psychisch Kranker betreut werde und die Leistungen vom Landratsamt bezahlt werden.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück. Nach § 45b Abs. 1 Satz 1 SGB XI in der vom 01.01.2015 bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung des Ersten Pflegestärkungsgesetzes PSG I vom 17.12.2014 (nachfolgend a.F.) liegen nicht vor. Danach ist erforderlich, dass neben dem Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung der Pflegestufen 1 bis 3 (§§ 14 und 15 SGB XI a.F.) ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung besteht. Auch Personen mit „Pflegestufe 0" nach § 45b SGB XI können anspruchsberechtigt sein – vorausgesetzt auch bei ihnen besteht ein Bedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung.

Beide Fallgruppen setzen zusätzlich voraus, dass es sich um Personen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen handelt, bei denen der MDK oder die von der Pflegekasse beauftragten Gutachter im Rahmen der Begutachtung nach §§ 18 SGB XI als Folge der Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens festgestellt haben, die dauerhaft zu einer Einschränkung der Alltagskompetenz führen. Bei dem Kläger liegt bereits keinerlei Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege vor, so dass die Anspruchsvoraussetzungen nicht vorliegen. Auf die Frage, ob eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz vorliegt, kommt es nicht an.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf einen Entlastungsbetrag nach § 45b Abs. 1a SGB XI a. F., da bereits nach dem Wortlaut vorauszusetzen ist, dass derjenige, der den Anspruch geltend macht, pflegebedürftig ist. Es müssen mindestens die Voraussetzungen der Pflegestufe 1 erfüllt sein.

Ein Anspruch nach § 123 Abs. 1 SGB XI auf Pflegegeld nach Pflegestufe 0 scheidet ebenfalls aus, da die Voraussetzungen des § 45a SGB XI nicht erfüllt sind.

Praxishinweise

1. Die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg bezieht sich noch auf die Rechtslage bis zum 31.12.2016. Der Entscheidung ist zuzustimmen. Für die Zeit ab 01.01.2017 wird bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht mehr nach dem Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung unterschieden.

Vielmehr wird nun darauf abgestellt, inwieweit gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder Fähigkeiten vorliegen und deshalb Hilfe durch andere erforderlich ist. Voraussetzung ist, dass die Versicherten körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen und Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können (§ 14 Abs. 1 SGB XI i.d.F. PSG II ab 01.01.2017). Der Bedarf an Hilfe bei der Haushaltsführung wird nicht mehr gesondert beurteilt. Vielmehr wird dies bereits in den zu beurteilenden Modulen 1 bis 6 (§ 14 Abs. 2 SGB XI) berücksichtigt. Darüber hinaus werden mit den Modulen 7 und 8, die nicht für die Ermittlung des Pflegegrades heranzuziehen sind, Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder Fähigkeit zur Haushaltsführung und außerhäuslichen Aktivitäten geprüft. Mit diesen Informationen soll eine umfassende Beratung und das Erstellen eines individuellen Versorgungsplanes nach § 7 a SGB XI, das Versorgungsmanagement nach § 11 Abs. 4 SGB XI, die individuelle Pflege- und Hilfeplanung und eine sachgerechte Erbringung von Hilfe bei der Haushaltsführung ermöglicht werden (§ 18 Abs. 5 a SGB XI). Wegen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist der bisherige § 45 a SGB XI entfallen. Alle Pflegebedürftige können anerkannte Angebote zur Unterstützung im Alltag erhalten. Diese sollen dazu beitragen, die Pflegeperson zu entlasten und dem Pflegebedürftigen zu helfen, möglichst lang in häuslicher Umgebung zu bleiben, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten und ihren Alltag möglichst selbständig zu bewältigen.

2. Nach § 45 b SGB XI in der ab 01.01.2017 geltenden Fassung haben Pflegebedürftige Anspruch auf einen Entlastungsbetrag i.H.v. bis zu 125 Euro als Ergänzungsleistung. Er dient der Erstattung von Aufwendungen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen der Tages- oder Nachtpflege, Kurzzeitpflege, der ambulanten Pflegedienste i.S.d. § 36 in den Pflegegraden 2 bis 5, jedoch nicht im Bereich der Selbstversorgung und für Leistungen der nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alter nach §§ 45 a SGB XI. Pflegebedürftige mit Pflegegrad 1, die keinen Anspruch auf Pflegesachleistung und Pflegegeld haben, können ebenfalls einen Anspruch auf den Entlastungsbetrag nach §§ 28 a SGB XI i.V.m. § 45 b Abs. 1 Satz 1 SGB XI i.H.v. 125 Euro monatlich haben. Im vorliegenden Fall würde der Kläger die Leistungen aber nur dann erhalten, wenn mindestens Pflegebedürftigkeit nach Pflegegrad 1 festgestellt ist. Die Einkäufe und Begleitung zu Spaziergängen werden dabei nach § 18 Abs. 5a SGB XI nicht berücksichtigt. Die ärztlich angeordnete behandlungspflegerische Maßnahme wie das Blutdruckmessen ist dagegen bei Modul 5: Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen bei der Ermittlung des Pflegegrades zu berücksichtigen. Gegebenenfalls könnte auch im Bereich von Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte pflegerelevante Kriterien vorliegen. Insgesamt müssten nach § 15 Abs. 3 SGB XI mindestens 12,5 Gesamtpunkte erreicht werden.

3. Nach § 140 Abs. 1 SGB XI gilt das bei Antragstellung geltende Recht. Maßgeblicher Zeitpunkt für die zu beurteilende Rechtslage ist der Tag der letzten mündlichen Verhandlung (dazu Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. § 54 Rn. 34 a), so dass das LSG, wenn es über die Berufung im Jahre 2017 entschieden hätte, wohl die ab 01.01.2017 geltende Rechtslage hätte mitberücksichtigen müssen. Allerdings fehlte es dazu an einer Verwaltungsentscheidung, die ggf. kurzfristig hätte nachgeholt werden müssen – mit der Folge der Einbeziehung gem. §§ 96, 153 SGG.

Redaktion beck-aktuell, 28. Juni 2017.