LSG Baden-Württemberg: Keine rentenrechtlichen Beitragszeiten für ehemalige Heimkinder wegen "Zwangsarbeit"

Nach der derzeitigen Rechtslage kann die von ehemaligen Heimkindern geleistete Arbeit, die nicht Teil eines versicherungspflichtigen Lehr- oder Beschäftigungsverhältnisses war, sondern sich als – nach damaligem Verständnis – Teil der Unterbringungs- und Erziehungsmaßnahmen darstellt, nicht als rentenrechtliche Beitragszeit im Versicherungskonto der betreffenden Personen anerkannt werden. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg verweist in seinem Urteil vom 24.02.2017 darauf, dass die rentenrechtliche Berücksichtigung dieser Zeiten nur der Gesetzgeber regeln könne (Az.: L 8 R 1262/16).

Sechs bis acht Stunden Arbeit an sechs Tagen die Woche im Kinderasyl

Die heute 63-jährige Klägerin war von 1964 bis 1971 im Kinderasyl Gundelfingen an der Donau untergebracht. Im Jahr 2013 beantragte sie bei der beklagten Deutschen Rentenversicherung Bund die Klärung ihres Versicherungskontos für diesen Zeitraum. Sie habe im Heim "Zwangsarbeit“ im Sinne eines faktischen Beschäftigungsverhältnisses geleistet, was nicht als bloße erzieherische Maßnahme bewertet werden könne. Sie habe im Rahmen einer Sechs-Tage-Woche täglich sechs bis acht Stunden in der anstaltsinternen Hauswirtschaft und in der Wäscherei/Schneiderei gearbeitet. Als Gegenleistung habe sie vom Heim Kost/Logis, Bekleidung, geringe DM-Beträge und Gegenstände des täglichen Gebrauchs erhalten. Das Heim habe sich dadurch Personalkosten erspart und Einnahmen aus der Vermittlung an Fremdbetriebe erzielt.

Rentenversicherung verweist auf "Fonds Heimerziehung“

Die Rentenversicherung hat die Anerkennung von Beitragszeiten unter Hinweis auf die Rechtslage abgelehnt. Die Berücksichtigung von Versicherungszeiten ohne ein echtes versicherungspflichtiges Lehr- oder Beschäftigungsverhältnis sei nicht möglich. Unter Zwang geleistete Arbeit von Heimkindern könne nicht als Beitragszeit in der Rentenversicherung anerkannt werden. Beiträge seien vom Heim nicht gezahlt worden. Um einen Ausgleich für ehemalige Heimkinder zu schaffen, sei der "Fonds Heimerziehung“ geschaffen worden. Widerspruch und Klage der Klägerin vor dem Sozialgericht Karlsruhe sind erfolglos geblieben.

Auch LSG verneint Vorliegen versicherungspflichtigen Verhältnisses

Das LSG Baden-Württemberg hat der Deutschen Rentenversicherung Recht gegeben, aber auch auf die rechtspolitische Bedeutung des Falles hingewiesen. Es sei zwar glaubhaft, dass die Klägerin zu verschiedenen Arbeiten herangezogen worden ist, wenn auch der genaue Umfang auch unter Berücksichtigung bereits bestehender Beweiserleichterungen nicht mehr aufklärbar sei. Weder habe aber nach damaligem Recht eine echte versicherungspflichtige Beschäftigung vorgelegen, noch habe es Beitragszahlungen des Heimes gegeben, noch sei ein Arbeitsverhältnis vereinbart worden. Nach damaliger Anschauung sei das Prinzip der Erziehung durch Arbeit vorherrschend gewesen. Heimkinder hätten nicht in einem auf den freien Austausch von Arbeit und Lohn gerichteten Verhältnis gestanden. Was die Klägerin im Rahmen ihrer Unterbringung erhalten hat (Kost/Logis, Bekleidung, Taschengeld), stelle sich daher nicht als (beitragspflichtiges) Arbeitsentgelt dar. Ob das Kinderasyl Gundelfingen seinerzeit Personal eingespart oder die Arbeit der Klägerin gewerblich für Dritte genutzt hat, war laut LSG nicht aufklärbar, hätte aber auch nicht zur Versicherungspflicht geführt.

Nach Gesetzeslage derzeit Berücksichtgung als weitere Beitragszeiten unmöglich

Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages habe zwar im Jahr 2008 hinsichtlich der Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung für Arbeit während der Heimunterbringung ein Tätigwerden des Gesetzgebers angeregt. Auch der Runde Tisch Heimerziehung habe in seinem Abschlussbericht die Frage von Rentenansprüchen aufgrund nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge thematisiert. Inwieweit die zum 01.01.2017 geschaffene Stiftung "Anerkennung und Hilfe“ die vom Petitionsausschuss angeregten Maßnahmen umgesetzt oder Schäden finanziell ausgeglichen hat, habe das LSG vorliegend aber nicht zu prüfen, da nach der Gesetzeslage zu entscheiden sei. Danach sei es dem LSG verwehrt, die von der Klägerin geltend gemachten Zeiten als weitere Beitragszeiten in ihrem Versicherungsverlauf/Versicherungskonto feststellen. Eine rentenrechtliche Berücksichtigung dieser Zeiten sei nach der gegebenen Rechtslage nicht möglich und damit Sache des Gesetzgebers.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.02.2017 - L 8 R 1262/16

Redaktion beck-aktuell, 13. März 2017.